new filmkritik


Donnerstag, Dezember 29, 2005
2005 - 25 Filme, 1 Serie (Kino, DVD, TV)

In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (Kluge) # Red Eye (Craven) # Crimson Gold (Panahi) # Oh Fantasma (Rodrigues) # L'Intrus (Denis) # Le Cochon, La Rosière de Pessac (68/79), Mes petites amoureuses (Eustache) # Barluschke (Heise) # Panic in the Streets, Wild River (Kazan) # The 40 Year Old Virgin (Apatow) # Montag kommen die Fenster (Köhler) # Assassination Tango (Duvall) # Prima della rivoluzione (Bertolucci) # Les Amants réguliers (Garrel) # Meat (Wiseman) # Napoleon Dynamite (Hess) # Les Yeux sans Visage (Franju) # Force of Evil (Polonsky) # War of the Worlds (Spielberg) # Fingers (Toback) # De battre mon coeur s'est arrêté (Audiard) # The Wedding Crashers (Dobkin) # West Wing - The Bartlet Years (Sorkin)



2005 - 23 Filme (Kino, Galerie, DVD, Fernsehen)

Thom Andersen: Los Angeles Plays Itself (USA 2003) # Judd Apatow: The 40 Year Old Virgin (USA 2005) # Alain Bergala: Le cinéma - Une histoire des plans (F 1996) # Busby Berkeley: Dames (USA 1934) # Bruce Baillie: Mass for the Dakota Sioux (USA 1964) # Lucile Chauffour: Violent Days (F 2003) # Claire Denis: L'Intrus (F 2004) # Raymond Depardon: Profils Paysans - Le quotidien (F 2004) # Harun Farocki: Aufstellung (D 2005) # Anna Faroqhi: Das Haus und die Wüste (D 2005) # Stefan Hayn und Anja Christin Remmert: Malerei Heute (D 1998-2005) # Jared Hess: Napoleon Dynamite (USA 2004) # Hong Sangsoo: Keuk jang jeon (Tales of Cinema; Südkorea/F 2005) # Hong Sangsoo: Kangwondo El Him (The Power of Kangwon Province; Südkorea 1998) # Kwon-Taek: Chukje (Südkorea 1996) # Klaus Lemke: Träum weiter, Julia (D 2005) # Liu Jiayin: Niu Pi (Oxhide; China 2005) # Pier Paolo Pasolini: Appunti per una orestiade africana (Notizen für eine afrikanische Orestie; Italien 1969) # Hugo Santiago: Invasión (Argentinien 1969) # Volker Schreiner: Counter (BRD 2004) # Andy Warhol: Screen Tests (USA 1963-66) # Klaus Wyborny: Sulla (BRD 2002) # Yi Yi-Fan: Yan Mo (Before the Flood; China 2004)




Sonntag, Dezember 25, 2005
Was nach Deleuze kommt.
Was die Kunst vom Film will, aber trotz Godard nicht bekommt.



"[...] Hitchcockian practice seems capable of epitomising at once the lost power of cinema now lying in its grave (Godard's thesis) and the power of an old cinema that for decades has been substituted for a new one (Deleuze). How can Hitchcock's cinematographic practice sustain both statements, and what is the relation of that practice to an essence of the cinematographic image?

[...]

a cinematographic image is actually a complex thing, a combination of several functions: the image connects and disconnects. It implements a representational function by subjecting the visual elements to the logic of a narrative or symbolic plot, and it engenders an aesthetic logic of suspension and infinitisation. In Deleuzian terms I would say that each image functions both as movement-image and time-image. Every film is composed not of images but image-functions that both supplement and contradict each other. This is true in the case of Hitchcock's classicism as it is in that of Rossellini's modernism. There is no shift from an ancien régime of cinema to a modern age. There a simply different ways of putting more or less into play the tension between different image-functions.

[...]

Godard may well have thought of himself as the last of the Mohicans mourning the death of cinema and predicting the reign of darkness. Paradoxically, he might have foreshadowed something quite different: a new trend of symbolist art [...]."


Jacques Rancière: "Godard, Hitchcock, and the Cinematographic Image". In: Michael Temple (Hg.): Forever Godard. London 2004, S. 214, 227, 231.



Samstag, Dezember 24, 2005


"John, that's the richest gift a body could have. - You'll find your presents in the cupboard under the china-closet."




Dienstag, Dezember 13, 2005
Herbst 1997

Ich erinnere mich an einen Besuch in der Mediathèque de Paris.

Ich erinnere mich an die großen Ledersessel vor den Bildschirmterminals.

Ich erinnere mich an die Lautsprecher, die statt Kopfhörern links und rechts neben dem Ohr angebracht waren.

Ich erinnere mich an den abgedunkelten Raum.

Ich erinnere mich an das Murmeln.

Ich erinnere mich, dass die Tastatur nach dem Alphabet organisiert war und nicht nach der geläufigen Anordnung der Buchstaben.

Ich erinnere mich, wie lange ich brauchte, um eine kurze Anfrage einzutippen.

Ich erinnere mich an die Roboter, die hinter den Glasscheiben die Videokassetten aus dem Archiv holten und in die Videorecorder schoben.

Ich erinnere mich, dass ich mir einen Film von Chris Marker über die Gewerkschaften im Jahr 2084 auf den Monitor bestellte.

Ich erinnere mich, dass ich mich vor Jacques Lacan erschreckt habe, bevor sich der Schreck in ein ungläubiges Lachen auflöste.

Ich erinnere mich, wie Lacan wirren Blicks "La mort" ausruft.

Ich erinnere mich, wie er leise "Elle est toujours là" hinterherflüstert.

Ich erinnere mich, dass der Lacan-Film von Benoît Jacquot war.

***

Das Ubuweb ist seit einer Weile wieder da. Neben dem Lacan-Film sind dort u.a. Filme von Beckett, Debord, Ivens, Landow, Mühl, Pelechian, Jack Smith, Smithson, Vertov und Vienet zu finden.




Samstag, Dezember 10, 2005
Dar-denned


wie leicht man selbst dem stumpfsinnigen Reflex erliegt, seine Erwartungen
ans Kino nach Oberflächenreizen auszurichten


M. Althen über "L'Enfant", FAZ vom 17.11.2005




Der, der diese Bemerkungen schreibt, (ich) hat gerade frische Kleidung angezogen. Mercerisiert-baumwollene Unterwäsche, frischgewaschene Jeans, frische Socken, gelüfteter Wollpullover, seit mehreren Tagen ungetragen. Ich bin barhäuptig. Es ist also davon auszugehen, daß sich kein Schmutz in den Fasern meiner Kleidung versteckt. Ich bin zuhause. Die DSL-Leitung gestattet mir jederzeit den Blick in jenen Raum mit den schmalen Fenstern weit oben, in dem David Lynch seinen "Daily Report" aufzeichnet. Caché.

Diese Umstände erläutern meinen Blick auf "L'Enfant". In dem Film geht es um Verstecke. Verstecke sind Räume einer bestimmten Abgeschlossenheit. Sind Verstecke geheim? Nicht unbedingt (im übrigen ist längst bekannt, daß offene Geheimnisse am besten versteckt sind). Verstecke können auch bekannt und akzeptiert, gleichwohl unangetastet sein. Sie sind Zonen, deren Zugang geregelt ist, aber nicht ausschließlich der Abwehr einer interessierten Intentionalität dienen. Verstecke leisten Kompartimentierung. Räumlich, physisch, sozial, logisch.

Spoiler (2. Grades: ich verrate noch nichts, aber ich verrate, daß noch was ganz Anderes kommt): es geht gar nicht um die folgende Liste der Verstecke in "L'Enfant" -- ich will eigentlich nur über (Sie kennen sie jetzt aber noch nicht) die Pointe am Schluss (dieser Bemerkungen, nicht des Films) reden. Ich verrate also: nicht Tränen -- Blumen!


Das "offizielle" Versteck (der Karton). Die offene Strasse, das Gehen, Wandern, Schieben unter freiem Himmel. Das Gehen und Stehen im Regen.
Der Bauch, in dem das Kind gerade noch war; die nicht sichtbare Hand auf dem Bauch. Der, die Kinderwagen (sein unsichtbarer Innenraum). Der Baby-Overall (Anonymitäts-Dispositiv: die vielen Baby-Darsteller im Abspann).

Kleidung: der Hut, der verlorene Hut, der Regen. Der Minirock, genuines Dispositiv des Versteckens (bar/bedeckt), die Jacke(n), die nassen Socken, die ausgezogen werden (die nackten Füße), die Kleidung, die im Asyl nicht ausgezogen wird; das Baby, dem nie die Windel gewechselt werden, und das nur 'zuhause' nur teilweise ausgezogen wird.

Die Taschen der Kleidung: in denen alles mögliche steckt: die Beute, das bare Geld (kein Portemonnaie), das Handy, die Zigaretten (kein Alkohol); die gefilzt werden; (hat die Gefängniskleidung Taschen?).

Die Taschen der Beute: die Kiste mit dem Testament (der versteckte Wille), mit Schloss (schlecht geschlossen), mit Draht (sehr schlecht geschlossen); die Tragetasche der Frau, der Geldbeutel.

Wohnungen mit Türen: die Wohnung des Paars, der Mutter, das Asyl (die Gegensprechanlage, die Gegensprechanlage am Mulholland Drive).

Übergabeorte: die Wohnung (die Zimmer mit Türen, die verschlossenen Aufzüge), die Garage (doppelt, mit Rolltür, mit Innenwand, mit Loch).

Die Schwellen (die Zugänge zum Versteck): die Autostrasse, die Böschung, das Einsteigen in den Bus (Hilfe auf der Schwelle), das Dach des Cabriolets, die Schlange am Amt (die versteckte Hilfe), die Telefonistin, die die Nummer der Mutter nicht vermittelt, der Zaun, wo er auf den Motorroller-Knirps wartet.

Die Deckung: vor den Verfolgern hinter dem Stahlzeug, im Wasser, in der Ufer-Baracke.

Die Orte: das Asyl, das Krankenhaus: der Zugang zur Station, die Vorhänge ums Bett (das verbotene Handy); die Polizeistation (Aufzug, Zugangsregelung am Counter), das Gefängnis.

Das Handy: der Bote, Vermittler entlang der Grenze offen (das dauernde Klingeln)/verdeckt (die anonyme SIM-Karte): die Übergabe des Handys durchs Loch in der Wand, die kurzen Gespräche der Versteckten, ohne Spuren (das Aufheben der alten Telefonkarte) -- aber es braucht Strom.

Des weiteren: das Aufreissen des Nahrungsbeutels, das nackte Kaffeepulver, das Cabriolet (das Verdeck-Auto), die im Kinderwagen versteckte 1-Euro-Weste, das bare Geld, der von der Polizeidecke bedeckte Junge, die saubere Gefängniskleidung (ohne Taschen?), das bare Geld, das bare Geld.


Und nun die Pointe:
Bei der Übergabe des Kindes muß Bruno die Tür des Zimmers schließen, das zu der leerstehenden Wohnung des anonymen Hochhauses gehört. Das Handy, der Schwellenapparat, steuert die Abläufe. Bruno muss warten. Er steht derweil vor einer Tapete mit einem Muster von kleinen Blumen und Pflanzengruppen. Man kann sagen: eine "realistische" Tapete für solch einen trostlosen Ort. In diesem Sinne indiziert die Tapete soziale Realität (im Tagesspiegel-Interview wird Barthes' "Realitätseffekt" angesprochen). Lange halbnahe Einstellung. Und dann, mit einem Mal, bewegt sich etwas auf (in?) der Tapete: ein Ohr?, ein Tier?, ein Schmetterling?, eine Ente? Der erste Dardennes-Zoom fährt auf (in?) die Tapete und entdeckt, daß in (hinter?) der Tapete ein unerhörtes Geschehen vor sich geht: der Film vergißt daraufhin Bruno, Sonia, das Kind, das Geld, den Staat, den Regen, und stürzt im folgenden die Blütenbahnen eines blümchenfrischen Lenor-haften Eskapismus hinunter. Dieser Film aber, obwohl die Tapete, wie jede Tapete, wie jede Wand, glatt und flach ist -- dieser Film ist versteckt in der Falte eines offenen Geheimnisses, eines Oberflächenreizes. Aus dem Off hört man sagen: "... a little bit of blue skies, lots of clouds, no wind, some rain last night, fifty-eight degrees."



Donnerstag, Dezember 08, 2005
In dieser Erzählung sind Orte und Personen erfunden. Die einen finden sich auf keiner Landkarte, die anderen leben nicht, noch haben sie je gelebt, auf keinem Fleck der Erde. Und es tut mir leid, dies zu sagen, denn ich habe sie geliebt, als wären sie wirklich. [Vorbemerkung in Natalia Ginzburgs Roman "Die Stimmen des Abends" (1961)]



Dienstag, Dezember 06, 2005
Kino-Hinweis

"Le petit lieutenant" von Xavier Beauvois wurde in den November-Cahiers zusammen mit Cronenbergs "A History of violence" unter dem Label "Retour à la fiction" euphorisch gefeiert. War die denn je weg, die Fiktion? Oder vielleicht doch nur mal kurz um die Ecke, Zigaretten holen?

Fasst sich an der Nase sagt / das beste in der Vase / ist die Kirche im Dorf

Der Film kommt irgendwann im kommenden Jahr in D ins Kino. Vorher, genauer: morgen abend, wird "Le petit lieutenant" im "Cinema Paris" gezeigt. Ach ja: Natalie Baye, die Hauptdarstellerin, ist auch da.

Cinema Paris, Kurfürstendamm 211, 19.00 Uhr




Montag, Dezember 05, 2005
TV-Hinweis

Jeden Mittwoch im Dezember: Filme von Raymond Depardon im WDR

10. Strafkammer - Momentaufnahmen (10ième Chambre - Instants d'audiences), Frankreich 2004
07. Dezember 2005, 23.15 - 00.55 Uhr
*
Bauernleben (Profils paysans: L'approche), Frankreich 2000
14. Dezember 2005, 23.15 - 01.45 Uhr
*
Paris, Frankreich 1997
21. Dezember 2005, 23.30 - 01.00 Uhr
*
Vom Westen unberührt (Un homme sans l'occident), Frankreich 2002
28. Dezember 2005, 00.00 - 01.40 Uhr




Samstag, Dezember 03, 2005
3.12.2005

Das Telefon klingelte, ein Freund war am Apparat. Er rief von Porquerolles an, drüben vor der Küste. Ein Filmteam habe sich angekündigt, er wusste davon, weil er im einzigen Restaurant der Insel als Koch arbeitete. Ein paar Tage später hatte er genauere Angaben, und er, der Angerufene, der vor kurzem mit dem Studium in Aix-en-Provence begonnen hatte, lieh sich von Freunden eine 16mm-Kamera.
Er nahm eins der kleinen Boote, die außerhalb der Saison zwischen Port de la Tour Fondue und der Insel pendeln. Da er früher als das Filmteam dort war, konnte er mitverfolgen, wie das Material entladen wurde und die Dreharbeiten zügig begannen. Eine Szene am Strand, eine Frau und ein Mann gehen mit Koffern am Ufer entlang. Er sieht das aus dem Schutz der Eukalyptusbäume, hinter denen er wie ein Indianer herumschleicht. Irgendwann traut er sich, einen vom Team anzusprechen, ob er fotografieren und filmen dürfe. Der Gefragte gibt die Frage weiter an den Regisseur, der gibt ein kurzes Zeichen zurück: Ihm ist es egal. Er, der Fragende, macht also Aufnahmen vom Strand, von den Kameras, von den Bäumen. Schließlich nimmt er das nächste Boot zurück.

Damals hatte er keine Ahnung, dass er den Weg des Regisseurs in den nächsten 40 Jahren kontinuierlich mitverfolgen würde. Aber wenn er Pierrot le Fou jetzt sieht, sieht er zugleich sich selbst in dieser einen Szene im Hors-champ unter den Bäumen stehen. Die Filmrolle, die er im Juni 1965 gedreht hat, ist verloren gegangen. Er erinnert sich aber, dass die Luft, die er atmete, dieselbe war, die Anna Karina, Jean-Paul Belmondo und das ganze Filmteam atmeten, auch der, den er damals um Dreherlaubnis gefragt hat: Jean-Pierre Léaud. Und er muss daran denken, dass derselbe Strand jetzt, in diesem Moment, mit denselben Bäumen, so dort noch immer steht, in Porquerrols, vor der Küste.



Alain Bergala erzählt das - in der ersten Person Singular und mit anderen Worten - im Vorwort zu seiner Sammlung von Texten über Jean-Luc Godard (Nul mieux que Godard, Paris: Cahiers du cinéma 1999). Godard wird heute 75. Kann sein, dass ich die Geschichte deshalb hier aufschreibe.




Dienstag, November 29, 2005
Left Wing

Manchmal findet man Missing Links, nach denen man gar nicht aktiv auf der Suche war, weil es scheinbar nichts zu verbinden gab. Warren Beattys hybride Polit-Satire "Bulworth" (1998) ist so eine Übergangsform, weil dort die Repräsentationsskepsis von "The Parallax View" mit der Stellvertretungsutopie aus "West Wing" Kontakt aufnimmt. Beide Modelle beziehen sich auf den demokratischen Begriff politischer Repräsentation, bei dem Darstellungsfunktion und Stellvertretungsanspruch zusammenfallen, weil Repräsentation eben beides bedeutet: den sichtbaren Ausdruck von Politik im öffentlichen Raum und personale Stellvertretung als Medium und Ausdruck indirekter Volksherrschaft. Bei Pakula kulminiert die eigentliche Konspiration dort, wo die vom Tonband reproduzierte stimmliche Repräsentation (ein Wahlkampf-Playback), die einem toten demokratischen Repräsentanten zugeordnet wird (der gerade auf einem führerlosen Golfwagen durch eine Sportarena irrlichtert), eine Referenzkrise anzeigt, die deshalb relevant ist, weil sie die demokratische Legitimationskette unterbricht, bzw. simulatorisch stabil hält. "West Wing" hingegen setzt auf den liberal-demokratischen Optimalfall: personale Integrität, die öffentlich darstellbar ist. Das Beste an dieser vollkommen großartigen Serie ist die Akribie, mit der hier jene institutionellen Prozesse aufgearbeitet werden, die sicherstellen sollen, dass es so etwas überhaupt noch gibt: res publica. "Bulworth" wiederum ist ein wirrer Film, weil er zunächst die Krisendiagnose undarstellbarer Machtkonstellationen zu teilen scheint, dann aber gutgelaunt einen weißen Senator zum authentisch-öffentlich für die afroamerikanische community sprechenden Rap-Politiker mutieren lässt. Dass Martin Sheen die Figur des bibelfesten Präsidenten Josiah Bartlet offen aus seiner wechselhaften Schauspielerbiographie entwickelt und "Bulworth" unter der Kategorie 'Assistant Director' ausgerechnet "Frank Capra III" führt, ist dann eben auch kein Zufall mehr: Alle Wege führen nach Washington und die des Herrn sind unergründlich.



Montag, November 28, 2005
Aktuell im Kino

"Exzellente Darsteller" (WAZ), "Grossartig" (DIE WELT), "Wunderbar" (SPIEGEL), "Glanzvoll" (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG): Stolz und Vorurteil.

"Die unglaublichste und ergreifendste Weihnachtsgeschichte aller Zeiten!" (ARD KULTURREPORT), "Zutiefst menschlich!" (STERN), "Reif für den Oscar" (CINEMA), "Magisch!" (ZDF Aspekte): Merry Christmas.

"Ein kleines Wunder!" (Süddeutsche Zeitung), "Eine Sensation!" (DER SPIEGEL): Die große Stille.

"Ein bewegendes Fest der Musik und des Lebens!" (KulturSPIEGEL): Wie im Himmel.

"Ein berührender, humorvoller und im besten Sinne aufklärerischer Film" (DER SPIEGEL): Die grosse Reise.

"Hollywood-Kino mit viel Herz und Humor!" (TV SPIELFILM), "Große Gefühle - manchmal braucht man so etwas einfach!" (WOMAN): Ein ungezähmtes Leben.

[FAS, 27.11.2005, S. 71; die Auflistung ist vollständig]




Mittwoch, November 16, 2005
Zwei Hinweise

*** Wer grad gute Französischkenntnisse zur Hand hat, kann diese Woche auf France Culture täglich Gespräche zwischen Claire Denis und Jean-Luc Nancy hören. Bisher: "Le territoire", "L'intrus", "La communauté d'esprit". In den nächsten zwei Tagen: "La violence de l'image" und "Cinéma et philosophie". Als Real Audio (jeweils 35 min) im Netz verfügbar, wahrscheinlich für ein paar Tage.

*** ROUGE 7: Viel John Ford (Texte von Shigehiko Hasumi, Jonathan Rosenbaum, Miguel Marias und Ross Gibson). Außerdem ein Schwerpunkt zu Architektur, Urbanismus und Kino und einiges mehr.




Donnerstag, November 10, 2005
You don't give me Fever

Wer in Berlin in der zweiten Woche den neuen Farrelly-Film sehen wollte, hatte Pech: Es gab keine zweite Woche. Einigermassen verblüfft durchsuchte ich das Kino-ABC nach "Fever Pitch", dann nach "Ein Mann für eine Saison", wie die deutschen Verleiher optimistisch getitelt hatten. Wie genau das zustande kommt, dass eine Nick Hornby-Verfilmung mit Drew Barrymore in der weiblichen Hauptrolle, ein Film, der von führenden Zeitschriften als "wunderbar warmherzig" (BRIGITTE) empfohlen wird, nach einer Woche aus dem Cinestar verschwindet, wo er, wie ich dann erfuhr, schon in der ersten Woche im 17 Uhr-Slot geparkt worden war: Keinen blassen Schimmer. Kann sein, dass der Film in den USA gefloppt ist. Kann sein, dass es Lukrativeres für den deutschen Markt gibt als Baseball-Filme. Kann sein, dass in dem Farelly-Film nicht genug Farelly drin ist: Werde ich jetzt wohl erst erfahren, wenn die DVD rauskommt. Rührend war immerhin die Frau an der Cinestar-Kasse, wo wir dann "A History of Violence" sahen. Auf die Nachfrage, ob sie wisse, warum "Fever Pitch" so schnell abgesägt wurde, zuckte sie mit den Achseln und sagte, sie könne da leider auch nichts machen: Sie sei ja nicht jeden Tag da.




Hinweis

Heute läuft Philip Grönings Klosterfilm "Die große Stille" an.

In der aktuellen Jungle World sprechen Ekkehard Knörer, Volker Pantenburg, Stefan Pethke, Bert Rebhandl und Simon Rothöhler über den Film. In der heutigen taz ist ein weiterer Text von Bert Rebhandl zum Film erschienen.




Donnerstag, November 03, 2005
Fever Pitch (Bobby & Peter Farrelly) USA 2005

So eine tolle flache Dramaturgie. Sowas von geerdet, ohne jede Kunstanstrengung. Kein Bedürfnis, für jeden nicht genommenen Plot Point einen antidramatischen an seiner Stelle zu errichten. Dennoch bei mir immer wieder Erstaunen, was die alles nicht machen. Wie die Komödie als Formerwartung invertiert wird. Wie das Romantische in seiner Normalisierung zum Versprechen wird, mit in den Alltag zu kommen. Wie die Farrellys gelacht haben müssen, als sie die zwei Rollstuhlfahrer dann doch ins Bild schieben. Hereinschieben als Beiseiteschieben von Reflexen der Interpretation: Allegorisiert körperliche Defekte als politische doch künftig anderswo. Drew Barrymore, die den Film produziert hat, mag ich erst seit "50 First Dates". Ein Auftragswerk sieht anders aus. Alle wollten, was sie taten und konnten es auch. Ein Hauch von New Hollywood, ein wunderbarer Soundtrack.



viennale 05, notizen (2)

* Histoire(s) du cinéma - Moments choisis (Jean-Luc Godard, Frankreich 2000, 80 Minuten)
Ich sah den Film zweimal. Beim ersten Mal kam ich aus dem Kino und meinte einen griffigen Satz zu ihm gefunden zu haben; etwas, was man herausposaunen könnte zu Beginn eines Texts, dass alle staunten, was danach dann noch komme. Beim zweiten Mal wollte ich den Satz überprüfen und er kam ganz durcheinander von dem Film.

Hin und wieder markiert Godard Fehler, die ihm in der langen Version des Films, den "Histoire(s) du cinéma", unterlaufen waren, dann blinkt in roter Schrift das Wort "Erreur" auf der Leinwand und eine Korrektur steht darunter: es war nicht Martine Carol, es war jemand anders.

Dass "Night of the Hunter" von Charles Laughton (USA 1955) zentraler als in den langen Histoire(s) sei, hatte man uns vorher bereits erzählt. Die Szenen aus "Night of the Hunter" waren schon im langen Film, aber dort waren sie kürzer und überlagerter als in diesem. Sie handeln vom Fluss, auf dem die Kinder im Boot fortgleiten, vom Schrei, den Robert Mitchum schreit, als er das Boot fortgleiten sieht, und vom Nicht-von-der-Stelle-kommen des alten Mannes, nachdem er die tote Frau im Fluss gesehen hatte.

Es wurde gesagt, Godards Film sei ein abstract der langen Version, und wir fügten hinzu: aber auch etwas, was es ins Kino schaffen soll, anders als die lange Version, die sofort der Kunst zugeschlagen wurde - zu lang fürs Kino, zu kompliziert, nicht mehr zu plazieren. Neulich hatte ich mit EK gesprochen über die Sache mit der Kunst und die mit dem Kino. Dass die Kunst begierig auf das Kino sei und es in ihrer Gier und grotesken Bewunderung immer mehr umstelle, betaste, aussauge. Die Kunst macht das, weil sie mitbekommen hat, dass das Kino angeschlagen ist. Die Kunst, hatten wir gedacht, sei gierig darauf sich einzuverleiben, was sie nur vermittelt zu besitzen meint: das Große und Strahlende, das Leuchten des Kinos einerseits, aber, wichtiger noch, das nachhallend Narrative. Und das Kino, hatten wir gedacht, sei nicht mehr stark genug, dieser Gier zu widerstehen. Es kommt mir jetzt so vor, als seien die lange Sequenz mit dem Schrei und dem Fluss und die lange Sequenz mit dem alten Mann, der nicht von der Stelle kommt, wie Akkorde, die der Film von Godard sehr früh anschlägt und über seine ganze Dauer nachhallen läßt um ihm das Echo dieses spezifisch kinematographisch Narrativen zu geben.

Es kommt mir jetzt aber auch so vor, dass so von "dem Kino" zu sprechen, wie EK und ich es neulich probeweise noch einmal taten, als wir von "dem Kino" und von "der Kunst" sprachen, eine Sache ist, die sich nicht mehr versteht. Und dass Godard davon weiß, weshalb es nun neben den Geschichten des Kinos auch noch ausgewählte Momente daraus gibt.
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Dienstag, November 01, 2005
viennale 05, notizen (1)

* Shen Nu (Wu Yonggang, China 1934, stumm, 76 Min.)
Ruan Lingyu. Bei the Goddess das Gesicht dieser Frau. Dieses Gesicht stellt der Film oft heraus, es ist aber nicht skulptural gestaltet, wie der Titel des Films es nahelegen könnte, der Film gestaltet dieses Gesicht und seine Trägerin eher im Bereich des Gestischen, also zum Lesen. Im Chinesischen braucht nur ein Buchstabe ausgetauscht werden, um aus der Göttin eine Hure zu machen, schreibt Bérénice Reynaud im Katalog der Viennale 2005. Davon handelt der Film. Über den Zwischentiteln eine nackte Frau, deren Hände gefesselt auf dem Rücken liegen. Sie beugt sich zum vor ihr liegenden Kleinkind. Es sind nur 9 Filme dieser Schauspielerin übrig geblieben. Die wurden in Wien gezeigt.
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* Screen Tests - Reels 5, 7, 19, 20, 24 (Regie:Andy Warhol, USA 1963-66, stumm, ca. 250 Min.)
* The Chelsea Girls (Regie: Andy Warhol, USA 1966, 200 Min.)

Die Screentests von Warhol am anderen Tag, ihre Güte: sie machen einen irrsinnig. Sie sind allesamt stumm. Dennis Hopper, dennoch singend [1964, Reel 5, #1].
Baby Jane Holzer und ihr chewing gum stunt [1964, Reel 5, #8].
Lucinda Childs blickt an der Kamera vorbei. Lucinda Childs blickt links an der Kamera vorbei, dann wandert ihr Blick langsam nach rechts. Nach einer Minute ist er dort angekommen. Dann fällt eine Locke in ihr Gesicht, sie will sie wegpusten, die Locke aber fällt zurück, da nimmt sie ihre Hand zuhilfe. Dann setzt sich eine Stubenfliege auf ihre rechte Schulter. Dann fällt die Locke wieder in ihr Gesicht. Dann ist die Aufnahme zuende [1964; Reel 7,#7].
Mary Menkens kubistische Falten [1966, Reel 7,#9].
James Clairs Träne [1965, Reel 19,#8].
Baby Jane Holzer und ihr chewing gum stunt, sort of, revised edition [1965, Reel 20,#2].
Beim apfelessenden Lou Reed musste ich an Udo Lindenberg denken [1966, Reel 20, #5].
Kelly Edeys Adamsapfel in Untersicht [1963, Reel 20, #10].

Ein paar Tage später lese ich im Oktoberheft des Filmmuseums etwas, was mir gefällt, von Harry Tomicek zu "My Hustler" (1965), über die Schwenks und Zooms, die die starren Einstellungen der früheren Filme Warhols ablösen: "Sie prallen so roh, ungeglättet und mechanisch auf den Seh- und Zeitsinn, als wäre hinter der Kamera ein Roboter zu L'art-brut-Dienstleistungen eingesetzt." "Chelsea Girls" hatte ich da auch noch nicht gesehen. Aber später dann.
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* Leaving Home, Coming Home. A Portrait of Robert Frank (Gerald Fox, GB 2004, 92 Min.)
* Kikyo (Hagiuda Koji, Japan 2004, 82 Min.)
* Invasion (Hugo Santiago, Argentinien 1969, 128 Min.)
* A Letter from Greenpoint (Jonas Mekas, USA 2004, 80 Min.)

Der Film zu Robert Frank ist sehr ärgerlich. Volker hat schon dazu geschrieben.
An "Kikyo" habe ich kaum Erinnerungen. Es gibt einen Moment in dem Film, in dem zum ersten Mal Musik einsetzt, da sind der Mann und das Mädchen unterwegs und sanfte, lustige Kindermusik kommt jetzt aus dem Off.
Von "Invasion" hatte mir CN schon in Berlin erzählt, und es stimmt: er ist sehr toll. Borges hat an dem Drehbuch mitgearbeitet. Wie der Film Schwerkraft und Dynamik zueinandergesellt müsste man ausführlicher bedenken.
Immer wieder mache ich mich auf, die Sachen von Jonas Mekas zu sehen, und immer wieder laufe ich frühzeitig aus dem Kino. Ich mag den Film seines Bruders, "Hallelujah the Hills", sehr gerne.
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* Le Petit Lieutenant (Xavier Beauvois, Frankreich 2005, 116 Minuten)
Xavier Beauvois kannte ich als Darsteller bei Garrel. Ich las im Katalog, Caroline Champetier habe die Kamera für diesen Film gemacht. Ein Polizeifilm. In Berlin, heute, hat Volker angerufen und erzählt von den Cahiers, die den Film jetzt hypen, retour à la fiction. Mir war beim Schauen eingefallen, dass das europäische Kino den Polizeifilm dem Fernsehen überlassen hatte; man schaut sowas deshalb inzwischen anders. Später war ich mir nicht mehr sicher darüber. Wie die Genrebestandteile, die alle intakt gelassen sind in dem Film, den Darstellern und ihren Körpern Kontur geben, nicht aber den Rhythmus des Films bestimmen. Die Blicke und ihre Geschichte. Man sollte so ein Kino nicht postklassisch nennen!
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Freitag, Oktober 28, 2005
kino hinweis

Evolution of a Filipino Family
Regie: Lav Diaz
Philippinen 2004
643 Minuten


Berlin, Haus der Kulturen der Welt
Samstag, 29.10., 18:00 - 6:00
("In den Pausen Gespräche mit dem Regisseur Lav Diaz, Massagen und Kulinarisches.")

Im Viennalekatalog schreibt Bert Rebhandl: "In Evolution gehen Vision, Traum, Filmgeschichte ineinander über. Wenn André Bazin den Neorealismus noch als eine 'humanistische Weltanschauung' begreifen konnte, dann muss das Kino durch die Kritik des Humanismus hindurch, die seither geleistet wurde. Lav Diaz sucht in Evolution nach einer Darstellung der kollektiven Geschichte, ohne dabei zum Darwinisten zu werden. Er versichert sich gegen den Teleologieverdacht, der kritisch auf den Fortschrittsoptimismus der Moderne reagiert, indem er Orte und Szenen zueinander in Bezug setzt, ohne sie kausal zu verbinden. Er sucht sie auf wie in einer Analyse."

Hier gibt es einen Text über den Regisseur und ein Interview: senses of cinema > Brandon Wee > The Decade of Living Dangerously: A Chronicle from Lav Diaz




Nach Wien (III)

Invasión (Santiago, 1969): Die in den grauen Anzügen wollen einen Sendeanlage ins Stadion von Aquilea schmuggeln und die Stadt übernehmen. Die in den schwarzen Anzügen versuchen das um jeden Preis zu verhindern: Verschwörung und Gegenverschwörung, Verabredungen mit Zetteln, die ausgetauscht werden und Telefonhörern, aus denen merkwürdige Parolen kommen. Und alle rennen immer in diesem Film, ihre nachvertonten Schritte hallen auf dem dunklen Asphalt. Manchmal spitz hackend wie Spechte, die einen Baumstamm bearbeiten, manchmal scharrend wie ein Spaten im Kies. Jedes Wort ein Losungswort, jeder Satz ein Schlüsselsatz: Filme, die so funktionieren, sind auch als Allegorien der unsichtbar strippenziehenden Arbeit des Regisseurs zu verstehen. ++++ El Cielo Gira (Alvarez, 2004): Festivalbetrieb ist Anmaßungstraining, Arbeit an der Neujustierung der ausleiernden Zeit- und Aufmerksamkeitsökonomie. Wann "lohnt" sich ein Film? Wie bestimme ich den richtigen Zeitpunkt, um das Kino zu verlassen? Extrapolieren, Hochrechnen. Komm, noch fünf Minuten, vielleicht tut sich was. In mir? Im Film? Schließlich versucht man einen Moment abzupassen, an dem eine unauffällige Flucht möglich ist. Beim Dokumentarfilm über das Aussterben eines kleinen zentralspanischen Dorfs - dem Geburtsort der Filmemacherin - dauert es eine Stunde, bis wir uns zum Gehen entschließen. Nach dem Depardon-Film ist es fast schmerzhaft zu sehen, wie hier das Leben einer amtlich-konventionellen Dramaturgie von Schuss- und Gegenschuss untergeordnet wird. ++++ Profils Paysans: Le quotidien (Depardon, 2004): Nachholendes Sehen: Profils paysans hätte ich schon mehrfach hier in Berlin anschauen können, und jetzt wird der Film überraschend zu meinem Lieblingsfilm der Viennale. Was so einfach erscheint: verschiedenen Bauern, einem Hirten, einer alten Frau, einem jungen Pärchen, das einen Hof kaufen möchte, zuzusehen und ihren Alltag zu dokumentieren, das ist nicht nur Depardons Geduld, sondern auch seinem dramaturgischen Geschick geschuldet. Wir sind noch ganz im filmischen Präsens, ganz bei der knapp 90-Jährigen, da hören wir Depardon aus dem Off sagen, dass sie drei Tage später auf der Treppe gestürzt ist und seitdem im Krankenhaus liegt. Untiefen der filmischen Zeit. ++++ Quoi de neuf au Garet (Depardon, 2005): Was gibt's neues auf dem Garet-Hof? Depardons Bruder, der hier zehn Minuten lang erzählt, verkauft Teile des bäuerlichen Anwesens. Er erzählt ganz unsentimental davon, und der Unterschied zwischen ihm, der da seit Jahrzehnten wohnt und arbeitet, und seinem Bruder, der Fotos und Filme drüber macht, ist deutlich spürbar. Auch dass hier im kleinsten Maßstab von einer Veränderung die Rede ist, die über das Persönliche hinaus einen Widerhall in der Landwirtschaftspolitik der Region, des Landes, ja Europas findet, steckt in den wenigen Einstellungen mit drin: In kleinen Nebensätzen, vielleicht in einem Gesichtsausdruck, vielleicht im Rauschen der irgendwann im Hintergrund gebauten Autobahn. ++++ O Sangue (Costa, 1989): Über die Einstellungen in Filmen Erich von Stroheims hat Jean-Marie Straub geschrieben, sie seien "wie ein Ei auf der Erde" und "gleichzeitig wie Adlerschwingen in der Luft." Einen richtigen Reim konnte ich mir darauf nicht machen, aber beim Angucken von "O sangue" bekam ich eine Ahnung davon, was er meint. Pedro Costas Debut, das zugleich wie ein letzter Film aussieht, stellt die Einstellungen hintereinander, als müsse für jede immer wieder alles neu erfunden werden: Das Schwarz-Weiß, die Kontraste, selbst die Figuren. Aber zugleich setzen sich diese so abgeschlossen wirkenden Einheiten leichtfertig über die Ellipsen hinweg. Dialektik von Offenheit und Hermetismus. ++++




Sonntag, Oktober 23, 2005
Nach Wien (II)

Leaving Home, Coming Home (Fox, 2005): Anders als üblich läuft der Film auf der Viennale nur einmal. Der Grund: Robert Frank, den Gerald Fox gegen jede Wahrscheinlichkeit ausführlich porträtieren durfte, hat verfügt, der Film dürfe höchstens zwei Mal pro Jahr gezeigt werden (und einmal war er bereits in Rotterdam zu sehen). Neunzig Minuten später glaubt man, Franks Motive zu kennen: Wenn von seiner Zeit in Paris die Rede ist, ist ein Amélie-Akkordeon zu hören. Wenn es um New York geht, serviert Fox uns Cool Jazz. Und so weiter. Man gönnt es dem Film kaum, dass seine Plattheit dann doch oft durch die Sprödheit Franks austariert wird. ++++ Xin nuxing (Chusheng, 1934): Gegen Ende des Films erkrankt die Tochter der selbstbewussten Schriftstellerin an Lungenentzündung. Um die Medikamente bezahlen zu können, muss die sich mit einem unangenehmen reichen Typen einlassen. Wenn man genau hinsieht, wird man in fast jeder Szene den Kondens-Atem vor den Mündern der Schauspieler erkennen können - egal, ob es sich um Innen- oder Außenaufnahmen handelt. Die Filmstudios Shanghais müssen kaum beheizt gewesen sein, und die fiktive Lungenentzündung bekommt einen ungewollten Rückhalt in der Realität. Wie macht sich das im Spiel bemerkbar, wenn man kurzärmelig entspannt im Wohnzimmer sitzen soll und der Körper tatsächlich vor Gänsehaut und Zähneklappern nicht weiß wohin? ++++ Screen Test Reel 20 (Warhol, 1964-1966): Allein der Name: Baby Jane Holzer! Und dann ihre 1964 wahrscheinlich schon weltbekannte Kaugummi-Nummer: Alles mit dem Mund! Die Packung in einer langsam kreisenden Bewegung aufreißen, den Kaugummi Stück für Stück rausziehen, das Silberpapier abstreifen, dann in kleinen Bissen rein damit. A Definition of Cool, if ever there was one. Überhaupt ist Reel 20 eine ziemliche Action-Reel: Lou Reed isst im Profil einen Apfel. Eine Strähne aus Nicos Pony hat sich in ihrer Wimper verfangen und versetzt beides in eine leichte Schwingung. Peter Orlovsky macht unangemessene Faxen. Eine Screen-Test-Lektion: Dass scheinbar nichts passiert, bedeutet zugleich, dass jederzeit alles passieren könnte. ++++ Screen Test Reel 19 (Warhol, 1964-1966): Das Filmmuseum, dessen Programmierung ohnehin den ein oder anderen neidischen Blick aus Berlin auf sich zieht, erlaubte sich und uns den extravaganten Luxus, am Sonntagnachmittag vier Stunden "Screen Tests" zu zeigen. Wir kommen in der Mitte von Reel 19, sehen Taylor Mead, Susan Sontags Sonnenbrille, das Doppelporträt von Fagan/Malanga. Verfolgen eine Träne, die James Clair langsam die linke Wange herunterrollt. Sehen Ondine, der später dann in der letzten Rolle "Chelsea Girls" austickt, und Ruth Ford. Ab und zu ist weiter vorne rechts das vertraute Husten von M.B. zu hören, der diesmal vorausschauend eine Stange Camel ohne nach Österreich importiert hat. ++++ Geminis (Carri, 2005): Warum sollte man heute noch eine Geschichte erzählen, die vor allem nach Dekadenz, 19. Jahrhundert und frühem Thomas Mann schmeckt? Das großbürgerliche Ambiente, der Inzest unter Zwillingen, die bewusstseinsverändernden Substanzen, die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Als die Mutter die Geschwister nackt ineinander verknäult im Jugendzimmer-Bett erwischt, öffnet sie den Mund zu einem Schrei, der markerschütternd ist, obwohl die Regisseurin den Ton vollständig abdreht: Ein simples, aber wirkungsvolles Verfahren, um "Trauma" zu sagen. Kann sein, dass das Setting von "Geminis" in Argentinien nichts Anachronistisches hat, sondern etwas über ein 19. Jahrhundert erzählt, das dort auch im 21. den sozialen Raum definiert. ++++




Samstag, Oktober 22, 2005
Nach Wien (I)

Shen nu (Yonggang, 1934): In Shanghai wurden noch bis 1935 Stummfilme produziert. Im gleichen Jahr hat sich der chinesische Filmstar Ruan Lingyu das Leben genommen. Tausende waren bei ihrer Beerdigung, 'heuer' wird sie mit mehreren Filmen in Wien gewürdigt. "The Goddess" bedeutet der Titel, und sicher war damit die Rolle ebenso bezeichnet wie die junge Schauspielerin. Man glaubt, den Typus der verzweifelten Frau längst zur Genüge zu kennen, die ihren Körper verkaufen muss, um ihrem Kind die Schule zu bezahlen. Ruan Lingyu jedoch kostet die Effekte, die sich aus der gesellschaftlich erzwungenen Doppelmoral ergeben könnten, nicht aus. Statt auf Verstärkung setzt sie auf Stärke. ++++ A perfect Day (Hadjithomas / Joreige, 2005): Der Mittzwanziger Malek, der heute mit seiner Mutter den seit dem Libanonkrieg verschollenen Vater für tot erklären lassen wird, ist bei einer ärztlichen Untersuchung: Immer wieder, mitten im Lärm einer Baustelle, in der Disco, einmal am Steuer seines Wagens vor der Ampel, nickt er ein. Nach der Auswertung des Schlafvideos, auf dem seine Atmung manchmal kurz aussetzt, horcht die Ärztin ihn ab und fragt: "Rauchen Sie?" Dann folgt ein Schnitt, und wir sehen die beiden durch einen Nebenausgang aus dem Krankenhaus rausgehen. Sie lehnen sich an ein Geländer, er greift in die Hosentasche, und beide zünden sich eine Zigarette an. ++++ Careless Reef Part 4: Marsa Abu Galawa (Holthuis, 2004): Seit Mitte der Neunziger Jahre gibt es den Begriff der Visuals: Bildfolgen, die im Club als beweglicher Wandteppich projiziert werden, zur Beleuchtung der Tänzer. Auch die alberne Abkürzung "VJ" hat man sich einfallen lassen. Für Serge Daney ist das Visuelle ein Gegenbegriff zum Bild; sein böser und korrumpierter Doppelgänger im TV und in der Werbung. Eine abgedichteter Kosmos, der keine Fragen stellt. Mag sein, dass man zu Holthuis' wild geschnittenen Korallenriffkaskaden, die synchron zu einer türkischen Abgehnummer montiert sind, gut tanzen kann. Oder im Fernsehen für die Erhaltung der wunderbaren Natur werben. Im Kino dagegen braucht kein Mensch so was. ++++ Outerborough (Morrison, 2005): Morrison verdoppelt einen American Mutoscope-Film von 1899 und stellt die Bilder im simulierten Scope-Format nebeneinander: Eine Straßenbahn fährt von Manhattan über die Brooklyn Bridge nach Brooklyn. Wir sehen das einmal vorwärts, einmal rückwärts, dann in doppelter, vierfacher, achtfacher und-so-weiter Geschwindigkeit. Schließlich überlagern sich die Bilder, und der Prozess kehrt sich um. Konzeptuelle Montagefilmer wie Standish Lawder oder Ken Jacobs saßen mit Sicherheit nächtelang verzweifelnd am Schneidetisch, um solche Effekte zu erzielen. Hier, so der Verdacht, genügt es, per Tastendruck einen Befehlsalgorithmus über das Material laufen zu lassen. Was dabei rauskommt, erzeugt - Romantisierung der Sisyphos-Arbeit hin oder her - trotzdem kleine Glücksmomente. ++++ Ice/Sea (Ostrovsky, 2005): Wahrscheinlich soll der Titel eine Lautähnlichkeit zu "I see" suggerieren, aber zu erkennen im emphatischen Sinne ist in Ostrovskys viel zu langer, viel zu diffuser Montage: nichts. Auf der Berlinale konnte ich rausgehen, hier ist der Film in ein Kurzfilmprogramm eingekeilt, und den nächsten Film will ich sehen. Also lasse ich widerwillig die Eisberge, die Strände, die putzig stolpernden Pinguine, den Tiger, der aus dem Wasser springt und die Badenden in Aufruhr versetzt, an mir vorüberziehen. Als Ostrovsky gar nichts mehr einfällt, schwebt eine drittklassig animierte CGI-Frucht von einem Obstkorb in die nächste Einstellung hinüber. Nicht doch. What a waste. ++++ Reckless Eyeballing (Harris, 2004): Im Netzwörterbuch gibt es eine lange Diskussion darüber, was unter "Eyeballing" zu verstehen sei. Kurioserweise bedeute es ein flüchtiges Drübergucken, wenn man von Dingen, zum Beispiel Dokumenten spreche, aber ein intensives Anstarren, wenn es sich auf Personen beziehe. Harris' Film, der damit den Terminus für die bis in die 60er Jahre inkriminierten Blicke von schwarzen Männern auf weiße Frauen zitiert, ist flüchtig und intensiv zugleich. Grobkörnige Zeitungen, Filmaufnahmen, ein hochkopiertes Fahndungsplakat, Zwischentitel aus 'Birth of a Nation', handentwickeltes Schwarzweiß, Loops. Alles herumgebaut um die Wahlverwandtschaft von Pam Grier und Angela Davis. Die Attraktivität des Outlaws, der Angst und Lust erzeugt. ++++ I a Man (Warhol, 1967): Für mich sind die ersten Worte im ersten Film meiner ersten Viennale: "You gotta get up". Einer dreht sich widerwillig um im Bett, versucht schwach, sich gegen die insistierende Stimme zu wehren. Um 4.00 Uhr früh waren wir gequält aufgestanden, U-Bahn nach Tegel, Flieger nach Wien. Dass Warhol eines der Highlights der kommenden Tage sein würde, wussten unsere müden Hirne da noch nicht. "The staircase conversation between Tom Baker and Valerie Solanas [...] couldn't have been a stronger demonstration of her theories about men had she scripted it all by herself", schreibt Thom Andersen in einem schönen Katalogtext über Warhol. ++++




Donnerstag, Oktober 13, 2005
At the Academy (Guy Sherwin, 1974)


"Academy Leader" heißt das Vorlaufband, das den Filmvorführern zur Justierung von Schärfe, Bildstrich und Kader dient. Der Countdown ist da drauf, geometrische Symbole, die "Start"-Markierung und der kurze Beep. Gut strukturalistisch kopiert Sherwin den Filmstreifen übereinander, legt Filter drauf, schichtet den Ton übereinander. In der zweiten Hälfte des Films, nach etwa zwei Minuten, legt er eine Positiv-Kopie um ein oder zwei Bildkader versetzt auf das Negativ und belichtet beides. Als er das Ergebnis gesehen hat, einen wunderbar dreidimensionalen Relief-Effekt, den er vielleicht geplant, aber bestimmt nicht exakt so hat voraussehen können, muss er vor Freude an die Decke gesprungen sein.




Mittwoch, Oktober 05, 2005
fassbinder (langtexthinweise)

Diedrich Diederichsen und Harun Farocki haben uns freundlicherweise Texte überlassen, die auf Französisch in der neuen Ausgabe der französischen Zeitschrift Trafic, Nr. 55, Automne 2005 erschienen sind. Sie handeln über Fassbinder und sind auf unserer Langtextseite zu finden.

* Harun Farocki: Pop-Star mit Brille

* Diedrich Diederichsen: Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit: Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol




Dienstag, September 27, 2005
Drehkolbendichtleiste?

"Standards of living / They´re rising daily
But home oh sweet home / It´s only a saying
...
But what goes on / What to do there"

Bryan Ferry, In Every Dream Home a Heartache




"Du bist von allem ein Teil" (Der Mongoloid im Stelenfeld)


Presseinformation
Regisseurin des Spots der Kampagne "Du bist Deutschland" ("Sozialmarketingkampagne", Pro bono, 30 Mio Euro)

Dr. Clarissa Ruge

Geboren 1969. 1992-98 Studium der Politischen Wissenschaften, Philosophie und Kommunikationswissenschaften, parallel Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule München. Von 1995 bis 1999 freie Journalistin u. a. für Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, Die Woche. Ab 1998 mehrere TV-Dokumentationen. 2002-2004: Promotion zum Thema "Moderne Vergangenheitsbewältigung totalitärer Systeme". Seit 2004 Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilians-Universität, München.

Filme (Auswahl)
1998 Die Farbe der Wahrheit
1999 Vergewaltigt, Verschleppt, Verschwunden
2001 A Woman and a Half - Hildegard Knef
2005 Hemingway-Exit (Arbeitstitel)

Preise
1999 Axel Springer Preis für Junge Journalisten - Preis für herausragende Leistungen
2000 1. Platz "Profi" - Deutscher Menschenrechtspreis
2002 Bundesfilmpreis (Nominierung)




Freitag, September 23, 2005
New Serienkritik


Pampering life, life--our patient.


arte-Themenabend Das Gesetz der Serie:
In den letzten Jahren ist die Fangemeinde hochwertig produzierter amerikanischer Fernsehserien wie "Six Feet Under" oder "24" weltweit stetig gewachsen. Es scheint, als habe die Fernsehserie dem Spielfilm den Rang abgelaufen. Die Dokumentation wirft einen Blick hinter die Kulissen.

Eine Reihe hochwertiger Fernsehserien findet in den letzten Jahren großen Anklang beim Publikum. Auf der ganzen Welt ziehen ihre Geschichten die Zuschauer in den Bann, begleiten sie im Alltag und beeinflussen ihre Vorstellung von Liebe, Sex und Politik. Nie zuvor waren TV-Dramen und -Komödien so ausgefeilt wie heute. Mit den Kitschserien, die früher ein Auffangbecken für die Versager der Filmindustrie waren, haben sie nichts mehr zu tun.

Die Dokumentation gibt aufschlussreiche Einblicke in die Welt des amerikanischen Hochglanz-Fernsehens und macht mit einigen der imponierendsten Figuren bekannt, die für solch innovative Serien wie "Friends", "24", "Die Sopranos", "Six feet under", "Alias", "Sex and the city", "The Shield" und "Lost" verantwortlich zeichnen.

Olivier Joyard und Loïc Prigent werfen einen Blick auf einen noch wenig bekannten Aspekt von Hollywood und decken die komplizierten Mechanismen auf, aus denen diese überaus populären, weil nur allzu menschlichen Fiktionen entstehen. Wie gelingt es, ein TV-Projekt in der Branche durchzuboxen? Warum spiegelt das Fernsehen das Leben der Menschen von heute besser als jedes andere Medium wider? Die Beantwortung dieser Fragen trägt zum besseren Verständnis der Hintergründe eines Machtwechsels bei, der den wichtigsten Industriezweig von Los Angeles völlig auf den Kopf stellt.

Serienschmiede - Hollywood, arte, 22.10h
Dokumentation, Frankreich 2005,
Stereo, 54 Min.
Synchronfassung, Erstausstrahlung
Regie: Loïc Prigent



Sonntag, September 11, 2005
Die sekundäre Metafilm-Erfahrung

Heutzutage gibt es in allen Haushalten Videorekorder, und manche jungen Leute sehen sich einen Film zehn- oder zwanzigmal an. Aber rezipiert man einen Film richtig, wenn man ihn sich immer wieder auf Video ansieht, und das auch noch in Privaträumen? ...
Ich bin über lange Zeit in Kinos gepilgert, in denen die so genannten Klassiker gespielt wurden, und habe mir eine beträchtliche Anzahl von Filmen angeschaut. Filme wie Hitchcocks Eine Dame verschwindet, den wir zusammen in einem Pariser Vorstadtkino gesehen haben. Die jungen Cineasten heute sehen sich einen Film auf Video wieder und wieder an und können lauter Tiefsinniges zu den Details einer Szene sagen. Aber ich für mein Teil habe solchen Diskussionen nie etwas Produktives abgewinnen können.
Wenn man bestimmte Szenen eines Films in kurzer Zeit mehrmals sieht, kann sich jeder, und mag er noch so mittelmäßig sein, ihre Komplexität vor Augen führen. Man kann nicht nur den Protagonisten in der Bildmitte, sondern auch die Bewegungen der Personen in dessen Hintergrund wiedergeben. Absolut lächerlich. ...
Ist das die angemessene Art, Filme zu sehen? Erfährt man so jeden Moment eines knapp zweistündigen Films? Gelangt man wirklich zu einer profunderen Rezeption, indem man das, was man beim ersten Betrachten nicht richtig gesehen hat, nachträglich in einem weiteren Durchgang erfasst? Sieht man ab dem zweiten Mal nicht gleichsam den Metafilm des Films, den man beim ersten Mal gesehen hat? Ist es nicht eine ganz andere Art der emotionalen Erfahrung als die, wenn man durch einen neuen Film berührt wird? Die sekundäre Metafilm-Erfahrung also...
Deswegen möchte ich einen Film machen, den man sich nicht mehrmals angucken muss. Ich möchte einen Film machen, in dem man mit wachen Augen alles beim ersten Mal erfasst. Ich greife dabei aber nicht auf solch spießige Mittel wie ständige Close-ups zurück, mit denen man dem Betrachter vorschreibt, was er zu sehen hat. Das Prinzip ist, im Bild die Szene als Ganzes wiederzugeben. Und all denen, die den Film anschauen, Zeit zu lassen, damit sie die Szene in all ihren Details erfassen können. Bisher habe ich der Öffentlichkeit allerdings noch nichts in dieser Art präsentiert. Bisher waren meine Filme Einzelteile. Und weil die, die meinen schließlich realisierten ganzen Film sehen, diesen von selbst ganzheitlich sehen werden, müssen sie ihn auch nicht noch einmal sehen. Doch diese ganzheitliche Erfahrung wird ihre Sicht auf die Welt verändern...

S. 153-154 aus dem gerade erschienenen Roman "Tagame. Berlin - Tokyo" von Ôe Kenzaburo, in dem er sich mit seiner langjährigen Freundschaft mit Itami Juzo (der auch der Bruder seiner Frau war) beschäftigt, dessen Alter Ego Gorô dies sagt.



Donnerstag, September 08, 2005
Kino-Hinweis

Wer Thom Andersens Montage "Los Angeles Plays itself" noch nicht kennt, kann den Film morgen um 19.00 Uhr im Kino sehen. Danach unterhält sich Nils Plath mit Norman Klein über den Film, Los Angeles und Kalifornien. Die Filmreihe ist Teil des Internationalen Literaturfestivals, Schwerpunkt Kalifornien.

Neben Andersens Film laufen in der in der kommenden Woche "Criminals" (USA 1996, Regie: Joesph Strick, Gespräch mit C.K.Williams, Do, 8.9., 22.30h), "Affliction" (USA 1997, OmU, Regie: Paul Schrader, Gespräch mit Russell Banks, Fr, 9.9., 22.00h), "Double Indemnity" (USA 1944, OF, Regie: Billy Wilder, anwesend Kevin Starr, So, 11.9., 22.30h), "El Valley Centro" (USA 2000, OF, Regie: James Benning, Gespräch mit David Mas Masumoto, Di, 13.9., 22h, "Was vom Tage übrig blieb" (USA/UK 1993, dtF., Regie: James Ivory, Gespräch mit Kazuo Ishiguro, Mi, 14.9. 19.00h).

Alle Filme im Filmkunst 66, Bleibtreustrasse 12.




Dienstag, September 06, 2005
Langtext-Hinweis

Im August wurde im Fernsehen "Remorques" von Jean Grémillon gezeigt; ein Anlass, in den beiden Filmkritik-Heften zu lesen, die Peter Nau geschrieben und zusammengestellt hat. Am Ende des ersten Hefts, Juni 1982, heißt es über Grémillons frühe Filme: "Was diejenigen der Filme betrifft, die am Anfang dieses Textes, auf den Spuren von Jean Grémillon, keine Erwähnung gefunden haben, so ging es in ihnen, die entstanden sind zwischen 1923 und 1926, um folgendes: den Straßenbelag; die Fabrikation des Fadens; vom Faden zur Nadel; die Herstellung des künstlichen Zements; das Bier; das Kugellager; die Parfüms; das Ausziehen der Glühbirnen; die Ausbildung von Straßenbahnfahrern; die Elektrifizierung der Strecke Paris-Vierzon; die Geburt der Störche; die Stahlhütten der Marine und von Homecourt; eine Seereise über den Atlantik." Im zweiten Heft, April 1983, ist ein Text aus Grémillons Nachlass abgedruckt, den man jetzt - ein Dank dafür an Peter Nau - auf unserer Langtextseite lesen kann.




Freitag, September 02, 2005
FRAME BY FRAME

What shape might film theory take in a post-film world? How might new interfaces - such as the web and more specifically the blog - make possible new structures and discourses of criticism? Whereas a paper book containing a frame-by frame analysis of a two-hour feature film is a practical impossibility, a web site devoted to such a project is unlikely, but possible.

[FRAME 1]


Parameters and Constraints

1. Blue Velvet is approximately two hours long.

2. The analysis is to be conducted frame-by-frame, which is to say: frame step-by-frame step on an Apple PowerBook G4, which turns out to be approximately 24 "frames" per second.

3. In Blue Velvet there are approximately 172,800 frames, at approximately 24 frames per second. (Everything here - all the calculations - are approximate. I use the word "frame" here in a sort of metaphorical way. Many thanks to Stuart Willis and Will Luers for input regarding DVD frame rate.)

4. A frame-by-frame analysis of Blue Velvet would take 473 years assuming one frame is presented per day.

5. I hope to offer 2 or 3 frames per week.

6. Annotations are to be no longer than 5 sentences per frame. Sometimes there will be no annotations at all--just the frame.

[Dank an Klaus Volkmer für den Hinweis.]




Substitute for love


"No laughter in the dark . . ."
Madonna, Substitute for Love



Im unten verlinkten Text im Freitag schreibt Matthias Dell: "Es ist ein Irrtum, Filme auf ihre Handlung reduzieren zu wollen, auf ihren Inhalt, ihre Geschichte. Jean-Luc Godard hat einmal über Hitchcocks Filme gesagt, dass man sich an bestimmte Gegenstände erinnern könne, die gelbe Tasche von Marnie etwa, während man vergessen habe, worum es in den Filmen eigentlich gegangen sei."
Und welcher Gegenstand käme etwa für Marseille in Frage? In der Einstellung (Szene?), die auf die, zumindest bei tiefnächtlicher arte-Rezeption, quälende (aber, "bitte!", gewiß begründete, motivierte) Strindbergproben-Sequenz folgt, spielt neben dem Rücken der Protagonistin ein teilweise durchsichtiger, teilweise semi-transparenter Wasserball eine wesentliche Rolle. Er wird im sog. Hintergrund von Kindern im Schwimmbecken hin und her geworfen, durchs Bild, und klatscht ab und zu aufs Wasser. Der Ball mag den einen oder anderen Betrachter, quasi proleptisch, an einen anderen Strand (Adria, nicht Provence) erinnern, an eine Stelle (Einstellung? Szene?) in Modiano's Eine Jugend, nein: in Nabokov's Gelächter im Dunkeln: "Sie fing an, sich abends zu langweilen; es verlangte sie nach Kinofilmen, schicken Restaurants und negroider Musik. [...] Fröhliche Sonnenschirme und gestreifte Zelte schienen in der Sprache der Farben zu wiederholen, was die Rufe der Badenden für das Ohr waren. Ein großer bunter Ball wurde von irgendwoher geworfen und prallte mit einem dumpfen Ton auf den Sand. [...] Schlank, sonnverbrannt, mit ihrem dunklen Wuschelkopf und den einen Arm mit dem Glanz eines Armbands noch immer vom Wurf ausgestreckt, erschien sie ihm wie eine köstlich kolorierte Vignette über dem ersten Kapitel seines neuen Lebens."



Mittwoch, August 31, 2005
TV-Hinweis / Langtexthinweis

Wie es zu solchen Sendeplatz-Entscheidungen kommt, fragt mich M. am Telefon. Ich weiß es nicht, antworte ich. Wahrscheinlich würde es mich nicht glücklicher machen es zu wissen.

"Marseille" von Angela Schanelec wird heute abend, besser gesagt: morgen früh um 1.05 Uhr auf Arte in die leeren Wohnzimmer mit den leise surrenden Videorecordern hineingestrahlt. Ich erinnere mich, dass mir nicht nur der Film, sondern auch eine Reihe von Texten gefallen hat, die sich dem Film verdanken:

Daniel Eschkötter: Nichts der Provokation und Alles der Sache [Filmtext]

Matthias Dell: Un-Totentanz [Freitag]

Eine schöne Vorbereitung, Verlängerung, Rahmung des Films sind immer noch und weiterhin Angela Schanelecs Aufzeichnungen aus Marseille:

Angela Schanelec: Marseille 1.-10. März

Ein Text mit Notizen, der nach einer Vorführung des Films im Dezember 2003 entstand und sich dann eineinhalb Jahre lang hier in einer Nische meiner Festplatte versteckte, steht jetzt auf der Langtextseite: Nochmal Marseille.




Dienstag, August 30, 2005
Kino-Hinweis

Am 2. September wird der Film "Die Quereinsteigerinnen" um 21.00 Uhr im Arsenal gezeigt. Die Regisseure Rainer Knepperges und Christian Mrasek sowie die Schauspielerin Claudia Basrawi (rechts im Bild) und der Schauspieler Mario Mentrup werden da sein.




Wer sich professionell auf den Freitagabend vorbereiten will, kann dies faltenderweise mit der beiliegenden Telefonzelle oder lesenderweise mit dem hier verlinkten Text tun.




Noch was: Uns ist das enthusiastische Urteil einer Österreicherin über den Film zugespielt worden, das wir hier auszugsweise zitieren: "Zu allem kommt dann noch, dass absurderweise mehrmals plötzlich Gegenstände aus der Wohnung meiner Eltern aufgetaucht sind, z.B. diese grauenvolle braune Fransenlampe (Hänge- und Stehlampe!!!) - ich schwöre, wir hatten genau diese, ich bin damit aufgewachsen. Und wenn ich meinen Scheitel ändere, nehm' ich auch immer Nivea! Jetzt muß ich leider aufhören mit der Lobeshymne und an dem blöden Softwarehandbuch weiterschreiben, sonst wird's nicht fertig bis morgen."




Donnerstag, August 25, 2005
Langtexthinweis

Ein paar Dinge über Michel Delahaye stehen hier.




Mittwoch, August 17, 2005
This is so contemporary (Hollywood)

In Michael Bays "The Island" gibt es eine Szene, die Anfang der 90er Jahre - als eigentlich schon entschieden war, wohin sich die kapitalintensivste Filmform nach der zweiten Übernahme- und Fusionswelle bewegen würde - noch ein Selbstreflexivitäts-Kärtchen eingeheimst hätte. Scarlett Johansson, die einen Klon spielt, erlebt dort ihr warenästhetisch verschobenes Spiegelstadium, als sie ihr originales Anderes in jenem Calvin-Klein-Spot erspäht, der vor dem Film auch schon im Werbeblock zu sehen war. Der Blockbuster, als initiative Plattform einer Produktpalette, deren Rentabilität sich wesentlich aus "intellectual property", also Lizenzpolitik speist, kennt jedoch kein ökonomisches Außen mehr, weshalb es in dem, was früher "Diegese" genannt wurde (und heute eher sensuell aufgeladenes, hyperkinetisches Environment ist), eben auch kein identifikatorisches Anderes mehr gibt, das nicht auf dieselbe Warenlogik hört. Sean Cubitt spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen filmischen Totalität, die monadisch und global ist. Schleichwerbung gibt es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und das Sentiment emanzipierter Kopien bei Spielberg - also dort, wo es noch im klassischen Sinn um Repräsentation und Referenzialisierbarkeit geht. Scarlett Johansson hingegen schenkt ihren auch nur halb erstaunten Blick einem Modus, der ihre eigene Screentime multipliziert und eine Verwertungskette in Gang setzt, die sich mittlerweile strukturell ins Zentrum der High-Concept-Filme vorgearbeitet hat.

The Island (Michael Bay) USA 2005



Freitag, August 12, 2005
Langtexthinweise [= Hände IV]

"Die Angst vor den Händen, die im Spiel sind, den Händen, die berühren und berühren wollen, als gehorchten sie keinem Willen, Hände, die zurückzucken und zurückgwiesen werden und ein Wille, der nicht weiß, ob er den Händen folgen kann, die wie abgetrennt vom Willen und vom Körper tun, was sie wollen. Hände."

(Wunder II) Lucrecia Martel: La Niña santa (Argentinien 2004), ein Text von Ekkehard Knörer.




Mittwoch, August 10, 2005
Glenn Ford

Ich erinnerte mich an Glenn Ford. Wenn er auf sein Pferd steigt vor dem Saloon und die Bedienung noch einmal heraustritt, und ein Gespräch beginnt zwischen den beiden, und Glenn Ford sagt zu ihr, sie seie skinny, und dann fragt er sie, ob es hier viele junge Männer gebe und dann steigt er auf sein Pferd, und sein Körper bleibt dabei ganz gerade und gespannt und wie er so auf das Pferd steigt ist das eine klare und eindeutige Bewegung mit seinem nach oben gerichteten, gespannten Oberkörper. Der Film zeigt das ganz genau und wie um es noch einmal zu unterstreichen läßt er dann den Trunkenbold der Stadt auf die Straße, um die Banditen zu verfolgen und er zeigt dann diesen Trunkenbold und dessen Art auf ein Pferd zu steigen: viele und mühevolle und immer wieder unterbrochene Bewegungen: so ein Pferd ist groß und der Trunkenbold hangelt sich ungelenk auf dessen Rücken. Dann sieht man ihn wegreiten und Glenn Ford steigt von seinem Pferd hinunter und geht mit der Frau zurück in den Saloon.




Freitag, August 05, 2005
Polen

I.
Eigentlich waren wir wegen des quietschenden Vorhangs vor der Leinwand in den Badeort gefahren. Und wegen des amerikanischen Mainstream-Programms, das man in dem um diesen Vorhang herumgebauten Kino mit halb- oder einjähriger Verspätung nachholen konnte. Ganz relaxt nach einem Strandtag, um den Sonnenbrand runterzukühlen. Letztes Jahr saßen wir da fast jeden Abend auf realsozialistischen Klappsitzen und sogen den Geruch von Reinigungsmitteln ein, der mich an die Jungendherberge in Dresden 1991 erinnerte. "Something's gotta give", "Stepford Wives", "Twisted", der auf polnisch "Amnezja" heißt und damit das Entscheidende gleich mal vorneweg verrät (wie mir ein Spanier 1998 in Paris erzählte, dass "Psycho" in Portugal unter dem Titel "Die Mutter war er" gelaufen sei).
Dann, ein Schock, war das Kino abgerissen und keiner wollte davon gewusst haben: Die Touristeninformation, das "Cinema-Café" an der Strandpromenade, der Alte mit dem ausgeblichenen LOVE-Tattoo auf dem Arm, der uns das Zimmer vermietet hatte: Fehlanzeige. Wobei dieser Alte nochmal eine Nummer für sich war: Als wir die Rucksäcke auf dem Bett abgestellt hatten, zeigte er auf S., sagte mit rollendem r "FRAU" und bedeutete ihr, mitzukommen. Als sie zwei Minuten später zurück war, hatte er ihr den Kühlschrank, den Herd und das Bügelbrett gezeigt. Wie Robert Mitchum sah er aber nicht aus.

II.
Abends im Zimmer, draußen bellen die Hunde: Kleines Fernsehspiel im noch kleineren Fernseher; 36 cm gefühlte Bildschirmdiagonale. Richy Müller ist ein traumatisierter U-Bahn-Fahrer, der sich nach ihrem Tod mit der vor seinen Zug gesprungenen Nicolette Krebitz anfreundet. Die beiden fahren nachts zusammen Auto, sie überrascht ihn auf der Big Lebowski-Gedächtnis-Bowlingbahn. Einmal sitzen sie auf dem Dachboden und reden über das Glück. Krebitz spielt die Tote sehr lebendig, Richy Müller trägt meist einen fünf Maschen zu norwegischen Norwegerpullover und einen braunen Mantel mit Fellbesatz am Kragen. Zuviel Kostüm, zuviel Ausstattung, zuviel Kamera, und dann noch alles mit so einem dezenten Understatement gefilmt. Die Kamera ist fast immer in langsamer Bewegung, Abtastungen, zwischendurch, TRAUMA, schickt sie uns im Zeitraffer durch die U-Bahn-Röhren. Dafür gab's einen Kamerapreis, lese ich später, als ich wieder zurück in Berlin bin. Statt einmal kurz durchs Bild zu rennen, hat der Regisseur seinen Namen oben als Fahrtziel in die Tafel über dem Führerhäuschen geschrieben. Rohdestrasse, der Zug endet hier, bitte alle aussteigen.

III.
Am Strand erscheinen manchmal Nachrichten auf dem Telefon. Drei Tage nach der Ankunft zum Beispiel eine von O2. Willkommen, ich könne jetzt im "era"-Netz telefonieren, was ich seit drei Tagen mache. M. schickt kurze Neuigkeiten aus Berlin. Ein paar Texte seien schon angekommen, ein sehr schöner zum Beispiel, in dem der wunderbare Satz steht: "Das Messer klappt zufrieden auf."

IV.
Der Kino-Abriss hatte uns kurz befürchten lassen, zu wenig zum Lesen dabei zu haben: Komischerweise kann man hier, wo es touristischer kaum sein könnte - mit Rummelplatz, Fressbuden noch und nöcher und einem muskelbepackten Trike-Fahrer, der seine Maschine abends an der Promenade hinstellt und sich daneben -, nirgendwo eine Zeitung kaufen, geschweige denn eine deutschsprachige (dabei sind wir nur 15 km von der Grenze entfernt).
M. hatte mir zwischendurch immer mal wieder Ross Thomas-Romane zugesteckt, wenn er welche auf dem Flohmarkt fand, aber ich hatte nie den Moment gefunden, einzusteigen. Jetzt bin ich froh, zwei Tage mit Artie Wu und Quincy Durant verbringen zu können und mit Thomas' lässigem Wissen von Geschichte, Erzählökonomie und Plotverquirlung. Dann das Mitchumdings von Althen, ein Auftragsjob, wie's scheint. Aber das Buch des Jahres ist für mich Lethems "Fortress of Solitude". Die Lust, das Buch in die Hand zu nehmen. Der Wunsch, dass es noch dicker sein sollte. Die Verlangsamung des Lesetempos am Ende, damit es nicht aufhört. Die letzten Seiten in der S-Bahn nach Berlin.




Mittwoch, August 03, 2005
Les triptyques de Claude Sautet
Paratexte deutschen Films

Zwar ist es nicht wahr, wie Michael Althen in der FAZ vom letzten Samstag behauptet, daß Patrick Modiano irgendetwas mit Antonioni zu tun hat; weniger falsch (wenn auch nicht richtig) ist es allerdings, den FAS-Autor Georg Diez als den Patrick Modiano seiner Generation (seines, dieses, Landes?) zu bezeichnen.

Könnte das Kriterium lauten: Wieviel Sepia, wieviel Melancholie, wieviel Weichzeichner, wieviel skeptische Reserve (wieviel--: Biedermeier??) schlägt die Stunde?

Sicherlich, Modiano ist mehr Vergangenheit, schaut weiter zurück, kommt ernster aus der Tiefe (bei all der, wie sagen die Fans, "schwebenden", "duftenden", sagen sie, "Leichtigkeit" ... sagen wir- Kitsch?); Diez ist mehr Gegenwart, aber in einer eigentümlichen, verhalten elegischen Distanz (souverän, formulierungssicher, mehr beobachtend als urteilend (solang der Unterschied gilt), scheinbar erwartungslos, spät - "spät", wissen Sie, in diesem mehrdeutigen Sinne, das nicht antiquiert, anachronistisch heißen muß? es kann früh spät sein, usw.).

Das Raffinierte (warum es nicht zugestehen?) an Diez ist allerdings, daß die Attitüde des leicht verblasen-bornierten, wenn man so will neo-bürgerlichen Post-Pop-SZ-Mag-FAS-bystanders konterkariert wird von der genauen Beschreibung: In diesem Sinne wirkt die alarmistische Rassismus-Diagnose Christian Füller's gestern in der taz wie ein komischer Abwehrreflex: Selbst wenn Diez manch eine ethnisch-soziale Demarkation (Migrantin/Nicht-Migrantin) entgangen sein sollte, macht er das wett durch ein mimetisches Punktieren der wirklichen sozial-affektiven Situation. "Privatistisch" ist ja nicht Diezens Blick, noch seine Schlußfolgerung: "privatistisch" sein oder werden ist ein Effekt der "sozialen Absturzängste" von "Mittelklassemüttern und -vätern". Diese Unsicherheit im "Spätsommer" (welchen Jahres?) zu registrieren ist dann von bübchenhafter Larmoyanz verschieden, wenn ineins damit benannt wird der "gesellschaftlich konservative, ästhetisch rückwärtsgewandte, wirtschaftlich ratlose und politisch diffuse" Kontext. Klarer als in manchem taz-Artikel (s. dazu Diederichsen, allerdings auch in der gestrigen taz) wird den Merkel-Boys die Zwischenbilanz, ihre Ausgangslage vorgelegt ("eine aus der Zeit gerutschte, lebenslaufarme Generation, die vor allem funktionieren will").

Aber gibt es denn nicht andere als "Mittelklassemütter und -väter"? Andere auch als Mütter und Väter? Wird hier nicht geredet aus der (rest-?)privilegierten Perspektive des längst (schon oder noch) Arrivierten? Vielleicht. Und wenn. Man nehme es als den Blick der Mittelschicht auf sich selbst in dem Augenblick der Bedrohung und ihres Eintritts in ein soziales Gleiten. Die diagnostische Empfänglichkeit hierfür, und deren stilistische Überformung, Überzeichnung ist es, was Diezens Texte auszeichnet.

Im übrigen scheint das auch Füller zu spüren, der vielleicht nicht zuletzt stilistisch sich provoziert fühlt und prompt selbst ein paar gute Momente hat: "Später verschafft sich Streifenpolizei Überblick." Könnte man fragen, wie ein solcher Satz in Film aussähe, etwa im Sinne Barthes': der Satz/die Einstellung, der Text/der Film? Könnte man sagen: das Politische in einem zeitgenössischen Film liesse sich ablesen daran, wie ein solcher Satz umgesetzt, 'aufgelöst' wird? Wolffs Revier vs. - was? (Und natürlich hiesse es im Script von Wolffs Revier eher: "Später: Die Streifenpolizisten verschaffen sich einen Überblick.")

Schreibt dagegen Diez: "Ein wenig wie die Treppe der Villa Malaparte in Godards Verachtung, nur als Plattenbau.", so kann man sagen: das ist der Beitrag zur Musealisierung der Avantgarde im eloquenten Zitat, dessen reale Kehrseite ist, daß Godard(-Premieren) in Berlin-Mitte (in Deutschland?) wohl nurmehr im pirate cinema stattfindet(n). Aber solch zitierende Vergleiche können wohl sowieso nicht ohne eine gewisse Reife (Sterilität?), auftauchend aus der modiano-esk verschwommenen Atmosphäre kulturellen Humidors.

In einem älteren Text vergleicht Diez Iñárritu's Amores Perros mit Jean Echonoz' Roman Die großen Blondinen, der gewisse Beziehungen zum Film- und Fernseh-Imaginären unterhält. Hier versucht Diez die Ungleichzeitigkeit der Rezeption von 2000er-Film und verspäteter Mitt-Neunziger-Roman-Übersetzung zum diagnostischen Vorteil zu wenden - landet allerdings bei der schalen Verabschiedung bloß spielerischer Postmoderne zugunsten krachiger, weil böser Wirklichkeit. Diez ließe sich hier also noch unter einem symptomatischen yearning for authenticity ablegen - und kassiert prompt ein sich Vertun im Geschmack (natürlich ist Echenoz' Buch besser als Iñárritu's Film).
Schade, daß Diez statt des 'ernsten' Iñárritu nicht den Vergleich zum, anders ernsten, späten Sautet gezogen hat; speaking of Mittelschicht, hätte ich das interessanter gefunden.

Derweil war im deutschen Fernsehen Tom Tykwer zu sehen - in seiner Rolle als Produzent des Films Underexposure, dessen irakischer Regisseur der wunden Seele Bagdads nachgehen will; Irak, U.S., Krieg - klar: Tykwer, der sich laut Selbstauskunft als politischer Regisseur versteht, hat jüngst bei der Polar-Präsentation in den KunstWerken auf Nachfrage das Politische im Film ausgemacht in Werken von: Godard! (s.o.), auch: Weingärtner (s.u.)!

Folglich: gäbe es (das wäre was!) in diesem Jahr einen Film Deutschland im Herbst 2.0, würde ich gerne eine G. Diez-Episode darin sehen - und leichthin auf die von Tykwer verzichten, der dann ja ohnehin in der Provence für Eichinger's Das Parfum (als Untergang-Sequel? Modiano-Untertitel: "Wie sich der Staub senkte und der Duft zurückkam - aus welcher Zeit?") dreht. Erwarten würde ich mir davon ein Ausagieren, Ausbuchstabieren gewisser Blicke, Differenzen (nicht Vision, Modell, Leitbild), die, beobachtbar gemacht, dann andere Dinge sehen liessen - anders dann, Kritik, das geht doch so, nicht wahr?

---das Ganze im Grunde bloß ein McGuffin für die Bilder (schlecht abfotografiert letzten Mittwoch von der WDR-Mattscheibe) . . . :







TV-Tipp: Heute abend, 23.15-00.35h, WDR, Sautet-Porträt:
N.T.Binh, Claude Sautet oder die unsichtbare Magie/Claude Sautet ou la magie invisible, Frankreich 2003



Sonntag, Juli 31, 2005
langtexthinweis

*   Bahram Beyzaie: Travellers (Mosaferan; Iran 1992), von Ekkehard Knörer




Samstag, Juli 23, 2005
Neulich, abends, im Arsenal

Perfect Film (Jacobs, 1986): Jacobs kannte ich als analytischen Zergliederer von gefundenem Material, der "Tom Tom the Pipers Son" verlangsamt, beschleunigt, in ihn reinzoomt, das Schwein der reimenden Zeile "stole the Pig and away he ran" sucht und Billy Bitzers burlesken Kurzfilm 90 Minuten lang seziert. Hier hat er etwas gefunden, das für sich genommen perfekt ist: Ausschussware eines Fernsehsenders mit Zeugeninterviews unmittelbar nach der Ermordung von Malcolm X. Hinter dem schwarzen Augenzeugen, in dessen souveräner Aussage die Historizität des Augenblicks schon mitgedacht ist, springt ein Junge hoch, der im Bild sein will, links daneben glotzt einer debil. Zwischendurch ringt die Kamera nach Bildern. ++++ Now! (Alvarez, 1965): Wenn man jeden Anfang von etwas daran misst, was später daraus geworden ist, hat kaum ein Film eine Chance zu bestehen; außer denen, die keine Nachfolger gefunden haben. Natürlich kann man sagen, dass Alvarez' Art, das schwarz-angeeignete "Hava Nagila" zu Fotos und Sequenzen von Akten schwarzer Unterdrückung zu schneiden, jeden Schnitt auf eine Betonung des Rhythmus', adaptierbar war und leicht zu vereinnahmen. Dass heute jede Jeans-Werbung so funktioniert. Dass also in diesem Beginn schon das ganze Elend der universellen Verwertungslogik zu erkennen ist. Dass sich die Korrumpiertheit wie eine Doppelbelichtung über das Unkorrumpierte legt. Muss man aber nicht. Zum Glück. ++++ Rohfilm (Hein / Hein, 1968): Nach ein paar Minuten Noise-Terror und Bildgeflacker schweifen meine Gedanken ab zum Verhältnis von Epilepsie und Experimentalfilm: Ganze Kontinente der Avantgardefilm-Weltkarte müssen einem Epileptiker unzugänglich bleiben, weil Stroboskopeffekte ja bekanntlich epileptische Anfälle auslösen können. Idee für einen Horrorfilm: Ein Flickerfilmfan stellt plötzlich fest, dass er unter Epilepsie leidet. Er wird zum Terroristen, der Experimentalfilme macht, die einzig darauf aus sind, den Zuschauer bestialisch zu quälen. Nach dem Film erzählt B., dass einer der bekanntesten Filme von Paul Sharits "Epileptic Seizure Comparison" heißt und medizinische Aufnahmen von zwei Epileptikern gegenüberstellt. Den hätte ich lieber gesehen als die Heinsche Fingerübung in Destruktionsterrorismus. ++++ Report (Conner, 1963-1965): Kennedys Ermordung hat neben viel Verstörung und noch mehr Verschwörungstheorie auch einen Kosmos von Bildern und eine Kakophonie von Stimmen produziert. Conner montiert einen Teil dieser Bilder und Töne, lässt sie in Vorlaufband auslaufen und bringt sie auf spezifische Art zum Stolpern. Beschwörend kehrt er immer wieder zum Tatort zurück: Wie die Limo mit J.F. und Jackie von der Dealey Plaza in die Elm Street einbiegt, das Winken. Conner vervielfacht das Material, aber er nimmt immer hinten ein paar Bilder weg und setzt sie vorne wieder dran: Wie ein Auto mit kaputtem Anlasser ruckelt die Sequenz vorwärts in den Tod. ++++ Mass for the Dakota Sioux (Baillie, 1963-64): Gern auftretendes Vorurteil: Experimentalfilme sind anstrengend und machen sich einen Spaß daraus, den Zuschauer zu malträtieren. Ab und zu finden sich Vorurteil und filmische Realität in erstaunlicher Kongruenz (vgl. "Rohfilm"). Baillies Film allerdings unterzieht das Cliché einer nachhaltigen Kur. Als breite man eine fast durchsichtige, leichte Decke über einer zweiten, ebenso leichten Decke aus. Als flatterten beide im Wind und produzierten in der Überlagerung etwas Neues. Amerikanische Landschaften, ein Toter, der zu Beginn auf dem Bürgersteig liegt und am Ende in einem Oldtimer abgeholt wird. Dazwischen sachte Überblendungen, eine kristallklare Kopie, und, ja, man darf wohl - zumindest kleingedruckt - sagen: anmut. ++++ Intolerance (abridged) (Lawder, 1960) : "Recommended for all students of filmmaking and film history", wird Lawders Film im Katalog von Canyon Cinema beschrieben. "Especially for those who don't have the time", könnte man hinzufügen, denn Lawder hat Griffith' Monumentalepos respektlos beschleunigt und damit auf zehn Minuten gekürzt. Ein Film für die durchlauferhitzten Bachelorstudenten der Zukunft. Trotzdem sind die Wechsel zwischen Totalen und Großaufnahmen, die Montagerhythmen, auch das völlig Irrsinnige in der Dreifachgeschichte von Babylon, Mittelalter und Moderne auch in der Kurzfassung noch greifbar. Wenn ein Film das überlebt, muss er so übervoll sein, dass noch das Extrakt nach was schmeckt. Eine der Wiegen des Kinos. ++++ Lettre d'un cinéaste (Akerman, 1984): Was man alles tun muss, um einen Film zu machen: aufstehen, Leute treffen, essen, vor allem Berge von Papier produzieren, Klamotten aus dem Kleiderschrank fischen, sich von den Produzenten antatschen lassen usw. So was Ähnliches hatte auch Hellmuth Costard ein paar Jahre früher als "kleiner Godard" an das Kuratorium junger deutscher Film geschrieben und versucht, das franko-schweizerische Vorbild ins Boot zu holen. Costard forderte die dilettantische Professionalisierung von Super 8, um weniger schreiben zu müssen und mehr machen zu können. Akerman bleibt zuhause, tut sich zusammen mit Aurore Clément und macht diese Studie über das Wie-man-einen-Film-macht. Postgodardsche, weiblich umcodierte Autonomiefiktionen. ++++ PPI (Serra, 1986): Von "PPI" habe ich kaum Bilder behalten können. Kurz ist der Film und kurzweilig, aber wie genau? Wellen, die ans Ufer schlagen, etwas Quietschbuntes, einen Augenblick lang. Meine Irritation, aus welcher Zeit diese Bilder kommen? Der Film wurde im Arsenal als Auftakt für eine Reihe von Statements über das Kinomachen im Jahr 2005 gezeigt. Manchmal klang das wie ein in die Zukunft gesprochener Rechenschaftsbericht. Ich stelle mir vor, dass das für die Ohren von kürzungswütigen Rotstiftpolitfunktionären gedacht war und hier ein Publikum fand, das sich solchen Rotstiftpolitfunktionär in Zukunft entgegenstellen soll. Um ihnen den Rotstift aus der Hand zu schlagen. ++++




Dienstag, Juli 19, 2005
A Slice of Life

Nothing is visible without light.
Nothing is visible without a transparent medium.
Nothing is visible without boundaries.
Nothing is visible without colour.
Nothing is visible without distance.
Nothing is visible without instrument.
What comes after this cannot be learned.

Nicholas Poussin, 1665


[zitiert nach: Sean Cubitt: The Cinema Effect. MIT Press 2004, S.42].




Montag, Juli 18, 2005
fernsehhinweis

Malerei heute, von Stefan Hayn und Anja Christin Remmert, D: 1998-2005

3sat , 18. Juli, 23:10 Uhr


*

Dass dieser Film heute zu sehen ist, entnehme ich der website von shomingeki. Darauf geschaut habe ich, weil ich die neue shomingeki, Nr. 16., durchblättere, die gerade erschienen ist. Auf dem Umschlag des Heftes ist die Reproduktion eines der Aquarelle, die in dem Film zu sehen sind. Ich entnehme diese Information aus dem Text von Johannes Beringer über den Film, mit dem die Ausgabe einsetzt. Das Inhaltsverzeichnis der Ausgabe findet man im Netz. Auf der website finde ich zudem die Information, dass die Inhalte der vergriffenen Ausgaben von shomingeki online archiviert sind. Dieses Archiv umfasst die Texte der Ausgaben 1 bis 5, die zwischen November 1995 und Frühjahr 1998 erschienen sind. Diese Texte sind lesenswert.




Samstag, Juli 16, 2005
Fernseh-Hinweis

Morgen abend, 17.7., um 21.15 Uhr auf 3sat:
Die Hochzeitsfabrik, Dokumentarfilm von Aysun Bademsoy, Deutschland 2004.

Wenn eine Frau "gestohlen" wird, also gegen den Willen ihrer türkischen Eltern heiratet, sind die Hochzeitsfeiern klein: "300, 400 Gäste", sagt der Chef des Kreuzberger Unternehmens, das die Dokumentation des Tages übernimmt. Sein Team ist mit drei Kameras auf rollenden Stativen unterwegs, an deren Kabelsalat die Essenswagen angehoben werden müssen. Ein anderer macht Fotos, retouchiert am Rechner die Narben des Bräutigams und bastelt einen abenteuerlich kitschigen Hintergrund dahinter. Der Adorno-Titel hebt hervor, wie hier das einzigartige Ereignis und seine standardisierte Reproduktion gegeneinander stoßen. Zum Glück hat die vermeintliche Standardisierung auch in der Traumfabrik nie ausschließen können, dass etwas Besonderes entsteht.




Samstag, Juli 09, 2005
Mit einer Gesamtprämie
Verleihung des Deutschen Filmpreises



Being proud of the german film

Als Alexandra Maria Lara-Fan und Abonnent von Park Avenue war ich überrascht und wenig einverstanden, dass AML nicht für eine LoLA nominiert war - das stimmt jetzt nicht ganz, mit Marie Bäumer zu reden; anders nämlich muss ich gestehen, dass ich es gar nicht müde wurde, wenn der Untergang ("Hochglanz- und Spaßkino dominiert den Markt", Dani Levy im Tagesspiegel-Interview) immer noch ein weiteres Mal getaucht wurde. Allerdings: Seltsamer Konsens der Akademie, der Philharmonie - Corinna, Bernd, Bruno, gemobbt quasi für einen Abend. Am Morgen um 10.45h war die Welt noch in Ordnung: da hatten die Event-Manager, seinerzeit von Eichinger selbst überredet, aus der Veranstaltung etwas wirklich Grosses zu machen (think, you know, the Oscar's ...), im Radio leicht zerknirscht, vorgreifend lindernd dem Akademie-Mitbegründer, aber Nicht-Nominierten Eichinger an die bald 6 Millionen verkaufter DVD's erinnert und die Erfolge im Ausland. Aber an diesem Abend "der Branche", unter "den Kollegen", "unseres Berufskreises" (Schlöndorff), da waren sich dann fast alle, in ihrem Geschmack, in ihrer Verantwortung, einig: "... so ein Effekt: Man denkt, man ist alleine mit seinem Ernst, und auf einmal sind ganz viele da." (V. Schlöndorff)

Zum Beispiel: Bully Herbig. Der hat ein so überschaubares wie pannenfreies Repertoire an Gesten und Mimik am Start - und im Zweifel ein Tucken-Backup. Letzteres brauchte er an diesem Abend zwei Mal: für einen Ideen-armen, aber stimmungsmäßig auf den Berufskreis ("28000 Arbeitsplätze!") eingemitteten Einspieler: der Untergang als Bauchplatscher. Das zweite Mal für's Schlussbild: teils Tribut an den toten Juhnke (allerdings mit, wo waren Erkan&Stefan of all deutsche Film-people?, frischen Bunnies), teils Erinnerung daran, wer das letzte Jahr die meiste Asche gemacht hatte - in der Branche. Gleichwohl muss man konzedieren, daß Herbig, anders als die meisten deutschen Präsentatoren-Stars (Wenders erstaunlicherweise ausgenommen), gut getimed artikulieren kann und sich weder von einem zu spät gesetzten Spot noch zu früh abgelaufenen 45 Sekunden irritieren läßt. Das, und nicht bloß die tempo-machende Off-Stimme, sollten die Beteiligten einer solchen Gala wirklich von Amerika lernen: Vorgaben des Formats sind als solche zur Kenntnis zu nehmen, und dann vielleicht ggf. auch einmal als solche zu kritisieren - bloßes Stolpern über's Format und Jammern und Klagen wie wenig Freund&Familie, Kind&Kegel in 45 Sekunden passen: das geht nicht. Das ist auch nicht politisch.

Und so kommt man wieder zur Frage nach Ernst und Politik und ihrem Zusammenhang mit Film. "Ich habe Hitler geschlagen", meinte Henry Hübchen, dessen Statement in seinem leichtfüssigen Changieren zwischen Figur und Person sicherlich noch das lässigste des Abends war, prompt halbe Irritationen im Berufskreis auslöste und noch besser gewesen wäre, hätte er die Hitler-Pointe nicht zwei- oder dreimal hintereinander festgeklopft. Dennoch lieferte Hübchens Witz so etwas wie den Aufriß des Abends: Man mag vielleicht das nicht, wofür Der Untergang steht, aber man ist bei einer Veranstaltung (institutionell: Akademie, eventmässig: Philharmonie) dabei, die die Eröffnungs-Präsentation hatte, die sie offenbar verdiente. Es muss an dieser Stelle Menschen wie Aljoscha Weskott überlassen bleiben, sich diese drei oder vier Minuten Film einmal vorzulegen - soviel läßt sich aber sagen: die Art und Weise, wie hier eine Entität und eine Geschichte namens "Der Deutsche Film" konstruiert, eingefriedet, im rechten Moment Heinz Rühmann-synkopiert und nach 90 Spielminuten (60 Jahren?) abgepfiffen wurde, darauf läßt sich wahrlich nur mit (a) Stolz ("seien Sie stolz auf das deutsche Kino", Herbig), und (b) Aufnahme als Bonusmaterial in jenes DVD-Set reagieren, das neben Der Untergang und Fassbinders Lili Marleen (Fassbinder, im übrigen, wurde durch einen weiteren Einspieler und einen daran anknüpfenden haspeligen Gottfried John, wie sagt man?, geehrt; sagt man: immerhin?) eben auch eine Set-Card von Alexandra Maria Lara (aber keine von Nina Schwabe) enthalten würde.

Und so könnte man jetzt mutwillig zwischen der Ablehnung von Eichingers Untergang und jenem Kick-off-Trailer so etwas wie ein Juste Milieu des deutschen Films konstruieren: in Maßen politisch korrekt, aber politisch hinreichend desorientiert, um in der Aversion gegen amerikanische Wörter ("Akademie", nicht "academy" (Bäumer), während sich Riemann das Amerika-Spielen noch nicht verkneifen wollte: "I thank the academy!") und amerikanische 45 Sekunden-Taktung, im Hang zu Emotion und menschlicher Empathie schon eine politische Haltung zu sehen. Deren Agenda formuliert sich dann so: "Verbindlichkeit, Persönlichkeit, Tiefe" (Marie Bäumer) - wollte sie sagen: "Bauchfilme, keine Kopffilme"(D. Levy)?

Die gewisse Leichtigkeit, auch ein gewisser Überblick (nichts Unpolitisches!), der sich in Hübchens Rede anzeigte, wurde spätestens von einer jungen Hoffnung wie H. Weingartner wieder rejustiert: er sprach, mit gewinnendem Ungelenk, vom Herzen, das ein jeder, eine jede hier (er deutete auf sein Herz) trage, und das eine revolutionäre Zelle sei: "Aber in Sachen Ironie bin ich immer noch total am Schwimmen. Was ich kann, sind Emotionen."

Gerne hätte ich noch die weiche, aber intensive Stimme von Ulrich Matthes sprechen, noch ein weiteres Mal sagen hören: "... mit einer Gesamtprämie von ..."



Dienstag, Juli 05, 2005
ON THE VISUAL ARTS

"Take a thing and put it on one thing
Take a thing and put it on the 2 things
Take a thing and put it on the 3 things
Take a thing and put it on the 4 things
Take a thing and put it on the 5 things
Take a thing and put it on the 6 things
Take a thing and put it on the 7 things
.........

sell any time"

[Dieter Roth: A few of the successfoll recipes offered by Rot in this volume:", in: Snow, wieder abgedruckt in: Ders.: Da drinnen vor dem Auge. Lyrik und Prosa, hg. von Jan Voss, Beat Keusch, Johannes Ullmaier, Björn Roth, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 160.]




Donnerstag, Juni 30, 2005
Kino-Hinweis

Vom 1. bis 6. Juli findet in Berlin die fünfte Französische Filmwoche statt: zwölf Produktionen aus den letzten zwei Jahren, darunter "Clean" von Olivier Assayas. Ausserdem drei Filme von Arnaud Desplechin: als Eröffnungsfilm "Rois et reine" (2004), zudem "Léo en jouant dans 'La compagnie des hommes'" (2003) und "Comment je me suis disputé (ma vie sexuelle")" (1998).

Alle Filme im Filmtheater am Friedrichshain und im Cinéma Paris, ein genaues Programm gibt's hier.




Montag, Juni 20, 2005
Education sentimentale

Im Zug, irgendwo zwischen Osnabrück und Bünde. Eine Frau erzählt ihrem achtjährigen Sohn eine Szene aus einem Hitchcock-Film: "Stell dir vor: Eine Verfolgungsjagd im schottischen Hochmoor. Der Hauptdarsteller rettet sich in ein Schloss. Da ist es hell, die Leute sind sehr freundlich, und er beginnt, ihnen seine Geschichte zu erzählen. Zu Anfang des Films hat er eingeschärft bekommen, dass er den Bösen, den er sucht, daran erkennen wird, dass ihm zwei Glieder an einem Finger der rechten Hand fehlen. Und jetzt erzählt und erzählt er, und irgendwann fragt der Mann, dem er diese Geschichte erzählt: 'Sind Sie sicher, dass es die rechte Hand ist?' In dem Moment ist in Großaufnahme seine linke Hand zu sehen, die nach einem Glas greift und an deren kleinem Finger genau die zwei Glieder fehlen... Das ist eine der gruseligsten Szenen, die ich kenne, obwohl es nicht dunkel ist, obwohl da nicht geschossen wird und gar nichts."

Danach erklärt sie noch ganz beiläufig, was ein McGuffin ist.

Diese Art von Vermittlung, bei der ganz deutlich zu spüren war, dass da nicht nur ein Film erzählt wird, sondern was Erlebtes.




Freitag, Juni 17, 2005
Film-Hinweis

"They really didn't want me to make the film. They enjoyed having us around but not to film. I was with my friend Danny and he had good connections for dope, much better than they had. And at one point I said to him nothing ever happens on these plane trips. It would be nice to have something happen." (Robert Frank)

Cocksucker Blues
USA 1972, 16mm, 90'

(Brotfabrik: 23.-29. Juni, jeweils 22h)




Donnerstag, Juni 16, 2005
* Fußball im Fernsehen in Mexiko




Sonntag, Juni 05, 2005
"Was ich damals an Fejos lieben lernte: daß mit 38 bei ihm der Ton des Lebens noch weich war wie bei einem Jugendlichen und er sich von heute auf morgen gegen den Unterhaltungsfilm und für eine Hinwendung zur Realität entschied. Die Schlüsselszene wiederum, die für diese Wandlung steht, ist so plastisch, so zugespitzt, daß es mir immer vorkommt, als hätte sie sich nicht real ereignet, sondern ich hätte sie in einem Film gesehen:
Der Präsident der Nordisk-Film versuchte Fejos zu halten und sagte schließlich: 'Gut, dann machen Sie Filme, wo Sie wollen, aber tun Sie's für uns', und er führte den Regisseur in einen Nebenraum, wo an der Wand eine Weltkarte hing. Fejos kam genau vor Madagaskar zu stehen und sagte: 'Das einzige Land, wo ich Filme machen möchte, ist Madagaskar.'

Diese lehrreiche Anekdote sagt mir: die von Fejos ausgeübte Kraft zum Verneinen, dieser natürlichen Äußerung des immerfort sich verändernden, erneuernden, absterbend auflebenden menschlichen Kämpferorganismus haben wir immer, den Mut aber nicht, während doch Leben Verneinung ist, also Verneinung Bejahung."

[Peter Nau: Ein Brief, in: Elisabeth Büttner (Hg.): Paul Fejos. Die Welt macht Film, Wien: verlag filmarchiv austria 2004, S. 176-177]




Donnerstag, Juni 02, 2005
Jägerbeine

In "Island of the Lost Souls" (Erle C. Kenton, USA 1932), der gestern im Arsenal zu sehen war, spielt Charles Laughton den exilierten englischen Wissenschaftler Dr. Moreau, der seltsame Experimente mit Tieren veranstaltet, weil er Darwin eine Spur zu wörtlich interpretiert. Wichtiger als die evolutionsbiologische Hysterie - das Labor heißt nicht ohne Grund "House of Pain" - und wissenschaftliche Meriten ist Dr. Moreau aber die Kultivierung eines spätkolonialen Stils, der selbst Colonel Walter E. Kurtz beeindruckt hätte. Dr. Moreau, stets im feinen weißen Anzug, nippt blasiert an seinem Tee und beantwortet skeptische Fragen mit ausgewählter Höflichkeit und minimalem Heben der Augenbrauen. Selbst die unermüdlichen Verschattungsbemühungen der Licht-Regie können ihn nicht diabolisieren, weshalb Laughton in der tollsten Szene des Films seinen eigentlich schweren Körper elegant auf den zu Folterzwecken umfunktionalisierten Operationstisch werfen kann und im Fallen aristokratischerweise die Beine übereinanderschlägt, als sei das eine Selbstverständlichkeit.




fernseh hinweis

"Nichts wirkt als Antwort, was nicht vorher gefragt gewesen ist. Daher bleibt so viel Helles ungesehen, als wäre es nicht da." (Ernst Bloch in Erläuterungen zu Hegel) Wir, die Männer und Frauen des dritten Jahrtausends - das ist eine Formulierung des verstorbenen Papstes - wir sollten fragen, wann und wo der neue Lemke läuft.
"3 Minuten Heroes" hat Premiere auf dem Münchner Filmfest. Zuvor aber zeigt der WDR eine Reihe mit alten und allerneuesten Lemkefilmen.
Am Montag, 6. Juni - 23:15 fängt es an mit "Amore".

Rainer Knepperges



Claudia Grimm und Timo Jacobs, "3 Minuten Heroes"





Dienstag, Mai 31, 2005
fassbinder, volksbühne, gestern, 30.5.2005




Sonntag, Mai 22, 2005
Fernseh-Hinweis

Heute abend, 22.5., um 22.15 Uhr wird auf 3sat Anna Faroqhis neuer Film "Das Haus und die Wüste" (D 2005) ausgestrahlt, ein Film über den Zusammenhang zwischen Häusern und Politik in Israel.



Die Zeichnungen Anna Faroqhis sind auf einer der Reisen nach Israel entstanden.




Mittwoch, Mai 18, 2005
fernseh-hinweis

Heute, 18.5.05, 23:15, WDR
Nicht ohne Risiko, D 2005, Regie: Harun Farocki




Sonntag, Mai 15, 2005
Claire Denis

Anfang Mai war Claire Denis im Österreichischen Filmmuseum zu Gast, um ihre und 12 Lieblingsfilme vorzustellen. Die Retrospektive läuft noch bis zum 19. Mai. Auch ein Buch, herausgegeben von Isabella Reicher und Michael Omasta, ist aus diesem Anlaß erschienen: Claire Denis. Trouble Everyday, Wien: Synema 2005.

An einem der Abende haben Omasta und Reicher ein Gespräch mit Denis geführt, das dank Annett Busch vollständig im Netz verfügbar ist. (231 MB, 95 min, Ogg Theora; Wie das im einzelnen funktioniert wird auf der Seite erklärt).




Sonntag, Mai 08, 2005




Samstag, Mai 07, 2005
I said to Sitney, at dinner in July, I have found your structuralists, P. Adams, and they are in England.




Luxonline is a free comprehensive on-line resource for people wishing to learn about and explore British artists' film and video.




Freitag, April 29, 2005
Getändel, aber so muß es auch sein

"[...] Gut so, ein Märchen mag märchenhaft begründet sein. Fatal ist nur, daß die utopische Oase selber die durch ihre anspruchsvolle Exposition geweckten Erwartungen enttäuscht und auf eine Weise vergegenwärtigt wird, die den Wunsch der meisten hier verschleppten Reisenden, schleunigst wieder die verderbten Stätten der Zivilisation aufzusuchen, sehr verständlich macht. Um davon zu schweigen, daß dieses Idyll der künstlichen, jeder sozialen Entwicklung spottenden Zurückversetzung der Menschen in archaische Verhältnisse seine Existenz verdankt, es ist auch von starrer Einförmigkeit. Seine Bewohner beschäftigen sich unverdrossen damit, ihre Herden zu hüten, fromme Lieder abzusingen und in feierlicher Prozession einen Gebäudekomplex zu durchwallen, dessen Jugendstilformen die Herkunft aus dem Filmatelier deutlich verraten. Und obwohl ihr Freudendasein auf die Dauer sterbenslangweilig sein muß, sind sie noch dazu mit ewiger Jugend begabt. Die Beimengung dieses mystischen Motivs verleiht der Utopie keineswegs eine erhöhte Anziehungskraft, sondern macht nur die Unhaltbarkeit ihrer Konstruktion offenbar.
Wenn Frank Capra einem solchen Drama die Arbeit zweier Jahre gewidmet hat, so ist er sicher von der Möglichkeit bestochen worden, die Wirklichkeit mit dem Ideal zu konfrontieren. Das Ergebnis bleibt jedoch weit hinter dieser Absicht zurück; es besteht darin, daß der realistische Teil ungleich besser gelungen ist als die Chimäre. Die großartige Darstellung der Nacht in China könnte Bürgerkriegen als Vorbild dienen, und die verzweifelte Flucht der Reisenden durchs Hochgebirge ist mit Fanatismus gestaltet. Wie schal wirkt daneben das utopische Getändel! Aber so muß es auch sein. Denn die Sonne des Glücks zerstört alle Konturen, und was unter ihr geschieht, läßt sich nicht mit nach Hause tragen."

(Siegfried Kracauer über "Lost Horizon"; ein merkwürdiger Abenteuerfilm von Frank Capra, in dem Leni Riefenstahl zuweilen tabulos auf Hermann Hesse trifft; USA 1937)